Das Haus Der Schwestern
der Übergabe beauftragen. »Bitte geben Sie ihnen die Briefe, wenn sie aufgestanden sind.«
»Aber ...«
»Mr. Wilson, machen Sie mir jetzt bitte keine Schwierigkeiten. Ich will den Frühzug nach York erreichen.«
»Sie können doch nicht einfach ... Ich weiß nicht ...« Der arme Mr. Wilson war völlig ratlos, was er tun sollte. Sie legte ihm eine Hand auf den Arm.
»Niemand wird Sie verantwortlich machen. Ich brenne ja nicht irgendwohin durch. Ich fahre nach Hause, und die Gründe dafür habe ich ausführlich in diesen Briefen dargelegt.«
»Wie wollen Sie denn zum Bahnhof kommen?«
Sie seufzte. Er war so altmodisch, so umständlich. »Spätestens auf der Grosvenor Street werde ich eine Droschke anhalten können. Machen Sie sich keine Sorgen! «
Sie sah ihm an, daß er sich schon jetzt die größten Sorgen machte. Sie konnte nur hoffen, daß er nicht, kaum daß sie aus dem Haus war, Margaret weckte, und daß diese dann den Brief lesen, die Zusammenhänge begreifen und versuchen würde, ihre Nichte aufzuhalten.
Sie trat hinaus. Die Nacht war wolkig und dunkel, aber es wehte ein warmer Wind, bei dem sich Frances einbildete, er rieche nach blühendem Jasmin. Es war fast genau ein Jahr her, seit sie nach London gekommen war. Sie spürte, daß sie den brennenden Hunger gestillt hatte, der sie von daheim fortgetrieben hatte. Sie war um einige Erfahrungen reicher, sie war durch eine bittere Zeit gegangen, aber sie stand wieder auf ihren beiden Füßen und hielt den Kopf hoch.
Irgendwann, irgendwo während des vergangenen Jahres war sie das behütete Mädchen in sich losgeworden.
Damit hatte sie erreicht, was sie hatte erreichen wollen.
Wie eine hohe, schlanke, mit filigranen Ornamenten über und über verzierte Kerze hob sich die Kathedrale von York über die Stadt in den hellen Himmel des Sommermorgens. Die Sonne tauchte sie in strahlendes Licht und ließ sie weithin leuchten, während die Häuser und Gassen zu ihren Füßen noch im Schatten lagen. Für Frances, die einen kurzen Zwischenaufenthalt in York hatte und ihn zu einem Besuch der Kathedrale nutzte, war es wie ein festlicher Empfang. Das Gotteshaus in seiner Ruhe und Schönheit hatte etwas von einer Mutter, die ihr Kind willkommen hieß. Noch nie hatte sie den prachtvollen Bau in seiner ganzen Vollkommenheit mit so viel Wärme betrachtet.
Ein Herr, der neben ihr stand und die Kathedrale ebenfalls bewunderte, sah sie an. »Ein wirkliches Erlebnis«, sagte er. »Sehen Sie sie zum ersten Mal?«
Frances schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin in Yorkshire aufgewachsen. Aber ich war ein Jahr lang in London, und ...« Sie beendete den Satz nicht, aber der Mann wußte, was sie meinte, und nickte verständnisvoll.
»Im Süden!« sagte er verächtlich.
»Süden« war für jeden echten Yorkshireman fast ein Schimpfwort, denn den Süden Englands gab es im Grunde nicht; zumindest stellte er etwas dar, worüber man entweder gar nicht oder nur in abfälligem Ton sprach. Eigentlich gab es sowieso nur Yorkshire. Der Rest von England hatte sich irgendwie darumgruppiert.
»Na«, sagte er, »dann wird es höchste Zeit, daß Sie wieder Heimatboden unter den Sohlen spüren, nicht? Ein Jahr in London! Man sollte es nicht glauben!«
Das letzte Stück der Reise brachte sie voller Ungeduld hinter sich. Sie kam sich vor wie ein Pferd, das mit den Hufen scharrt, weil es den heimatlichen Stall bereits wittert. Ein paarmal kam ihr Phillip in den Sinn, der inzwischen längst den Brief gelesen haben mußte. Sie versuchte sofort an etwas anderes zu denken.
Es war Mittag, als sie Wensley Station erreichte. Der vertraute kleine Bahnhof lag unter der warmen Sonne. Frances bemerkte, wie anders die Luft hier roch als in London, frischer und würziger. Der Wind trug die wilden Kräuter und Blumen in sich, die lichten Eschenwälder und die kalten Quellen.
Frances machte sich daran, eine Möglichkeit zur Weiterbeförderung zu finden, was sich als schwierig erwies. Außer ihr waren nur ein paar Bauern ausgestiegen, von denen keiner von einem Automobil oder einer Kutsche erwartet wurde. Frances war bereits ein ganzes Stück die Landstraße entlanggegangen, als ein Wagen neben ihr hielt, in dem ein älteres Ehepaar saß.
»Können wir Sie vielleicht mitnehmen?« fragte die Dame. »Der Koffer muß doch ziemlich schwer zu tragen sein!«
»Ich muß nach Leigh’s Dale. Das ist etwa...«
»Wir kennen Leigh’s Dale. Es liegt auf unserem Weg. Wenn Sie wollen, können Sie
Weitere Kostenlose Bücher