Das Haus der Sonnen
Familie gibt es nicht«, sagte Mezereum.
»Ich würde trotzdem gern sehen, wie er reagiert.«
»Warum? Was soll er deiner Meinung nach darauf antworten? Grilse hat ein solches Haus nie erwähnt.«
»Mir ist gerade die Idee gekommen, dass ein so genanntes Haus der Sonnen im Spiel sein könnte. Hesperus hat das mal erwähnt, aber sein Gedächtnis war so stark beschädigt, dass er nicht sagen konnte, woher die Bezeichnung stammt.«
»Weshalb sollte es ein solches Haus geben, wenn niemand je davon gehört hat?«, fragte Hederich. »Wir wissen, wer zu uns gehört – wer in der Körperschaft ist, wer ausgestoßen wurde. In unserer Geschichte ist kein Platz für eine verborgene Familie.«
»Vielleicht handelt es sich um eine Familie, die erst kürzlich aufgestiegen ist«, meinte Valeria. »Die es noch nicht in die Datenspeicher geschafft hat.«
»Wir könnten ebenso gut den Gefangenen fragen«, sagte Melilo und beugte sich vor. »Ich schließe mich Campions Ansicht an. Alles deutet auf eine Verbindung zur Vigilanz hin, und wir wissen, dass auch Hesperus sich dafür interessiert hat. Hätten wir mehrere Tausend Jahre Zeit, könnten wir jemanden zur Vigilanz schicken und dort Nachforschungen anstellen lassen. Aber so viel Zeit haben wir nicht, deshalb müssen wir uns mit den Möglichkeiten begnügen, die uns Neume bietet.«
Ich blickte auf mein Chronometer und den rasend schnell rotierenden Zeiger. Wir hielten uns bereits seit fast vier Minuten in Mezereums Zeitrahmen auf. In der realen Welt waren fast sechs Stunden verstrichen.
»Frag ihn«, sagte ich.
Mezereums Miene verfinsterte sich; sie mochte es nicht, wenn man ihr Vorschriften machte. Gleichwohl schob sie den Hebel wieder auf die Einhundert-Marke.
»Na, macht’s Spaß?«, fragte der Gefangene.
»Sie sind Dorn, ein Splitterling der Mellicta-Familie«, sagte Mezereum. »Sie sind angeblich auf der Strecke geblieben. Sie haben versucht, sich durch ein doppelt entartetes Binärsystem katapultieren zu lassen und haben die Gezeitenkräfte unterschätzt. So steht es zumindest im Speicher.«
»Wenn Sie es sagen.«
»Daran besteht kein Zweifel.« Mezereum warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu. »Beantworten Sie mir folgende Frage, Dorn. Erzählen Sie mir vom Haus der Sonnen.«
»So etwas gibt es nicht.«
Doch wir alle hatten gemerkt, dass die Antwort allzu schnell erfolgt war.
Sechzehn
Kadenz und Kaskade knieten vor Hesperus’ Überresten. Sie befanden sich an Bord meines Schiffes, im Orbit um Neume. Bereits seit zwei Stunden harrten sie in dieser Haltung aus. Ihre silbernen und weißen Hände berührten die Stelle, wo sein Körper aus den verbogenen goldenen Metallstreben hervortrat, die ihn mit dem Schiffswrack verbunden hatten. Die beiden lebenden Robots hatten die ganze Zeit über geschwiegen und sich nicht gerührt. Nur die Lichter an ihrer Schädelseite – die in einem aufgeregten Rhythmus pulsierten – ließen erkennen, dass es in ihnen arbeitete. Was Hesperus betraf, so war ihm keine Veränderung anzumerken. Die Lichter in seinem Kopf leuchteten matt wie verlöschende Feuerglut, ihre Bewegung war kaum wahrnehmbar. Kadenz und Kaskade berührten ihn nicht nur, sondern es hatte den Anschein, als drängen sie in seinen Körper ein und als wäre die goldene Verkleidung so nachgiebig wie Ton. Als sie die Hände jedoch langsam zurückzogen, blieb kein Abdruck davon zurück.
Kadenz wandte mir ihr hübsches Gesicht zu. »Er ist nicht tot, Portula. Aufgrund der schweren Verletzungen hat er seine geistigen Prozesse verlangsamt. Sein Bewusstsein und sein Erinnerungsvermögen gleichen einer flackernden Kerzenflamme. Er kann überleben. Aber hier können wir nichts für ihn tun.«
»Und auf Neume?«, fragte ich.
»Dort auch nicht«, sagte Kaskade. Seine Stimme klang auch dann tröstend und beruhigend, wenn er schlechte Nachrichten zu verkünden hatte. »Er muss in den Monoceros-Ring zum Maschinenvolk gebracht werden. Dort kann man ihn wiederherstellen und für seinen Einsatz auszeichnen.«
Ich dachte an die Jahrzehntausende, die verstreichen würden, ehe er das Sonnensystem des Maschinenvolks erreichen würde. Ebenso lange würde es dauern, bis er zu uns zurückkehren würde, falls es überhaupt jemals dazu käme. Selbst für einen Splitterling, der die Zeit nach Umläufen bemaß, war dies ein gewaltiger, unüberschaubarer Zeitraum.
»Würde er die Reise überstehen?«
»Das hinge vom Raumschiff ab«, antwortete Kadenz. »Es müsste
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