Das Haus der Sonnen
Stasisfaktor bei einhunderttausend lag, was etwa einer Sekunde für einen Tag entsprach, der in der Außenwelt verstrich. In der Zeit, die verstrichen war, seit ich mit den anderen Splitterlingen zum Frühstück zusammengekommen war, hatte der Gefangene gerade einmal blinzeln können. Um eine Geste abzuschließen oder eine kurze Bemerkung zu machen, hätte er zwei bis drei Tage benötigt.
Mezereum schob den Hebel nach links, bis der Stasisfaktor nur noch einhundert betrug. Der Gefangene wirkte noch immer reglos, doch wenn man genau hinschaute, war das Heben und Senken der Brust gerade so eben wahrnehmbar. Er atmete; er lebte. Die Blase war jetzt nicht mehr scharlachrot, sondern eher rosa.
»Er sieht und hört nur mich«, sagte Mezereum und blickte sich über die Schulter zum Publikum um. »Zwischen Ihnen und mir befindet sich ein Schutzschirm. Später wird es Ihnen möglich sein, die Gefangenen ins Kreuzverhör zu nehmen, doch im Moment möchte ich mich mit ihnen erst einmal alleine befassen. Selbstverständlich wurde ich von einer Mehrheit zu dieser Befragung ermächtigt.« Sie tippte mit dem scharfen Fingernagel auf die Anzeige des Chronometers. »Ich werde mich jetzt einstellen. Wenn Sie die Befragung mitverfolgen möchten, tun Sie bitte das Gleiche. Ich schlage vor, Sie wählen einen Zeitrahmen von sechs Stunden, das dürfte für ein paar Minuten Unterhaltung genügen.«
Während die Droge ihre geistigen Prozesse verlangsamte, verfiel Mezereum in eine Pseudoparalyse und erstarrte. Im Grunde handelte es sich um eine Verlangsamung der Körperfunktionen und keinen Stillstand, dennoch wäre sie vom Podest gefallen, wenn ihre Kleidung sich nicht versteift und sie gestützt hätte. Ihre subjektive Zeitempfindung entsprach nun der des Gefangenen; auch ihr Herzschlag und ihre Atmung hatten sich entsprechend verlangsamt. Ihr Mund öffnete sich ganz allmählich, und es kam anscheinend auch ein Laut heraus.
Es war nicht möglich, unter dem Einfluss von Synchromasch zu sprechen; die Physiologie des menschlichen Kehlkopfs erlaubte es einfach nicht, Laute zu erzeugen, die mehrere Minuten in Anspruch nahmen. Ihre Kleidung verstand jedoch ihre Absichten und versorgte die im Raum verteilten Lautsprecher und den Gefangenen mit einer Simulation von Mezereums Stimme. Was wir hörten, klang so tief und klagend wie Walgesang, untermalt mit pulsierendem Unterschall.
Ich holte ein schwarzes Fläschchen aus der Tasche und träufelte mir zwei kalte Tropfen Synchromasch auf die Augäpfel. Die Droge wirkte augenblicklich aufs Nervensystem und verlangsamte den Blinzelreflex. Ich wählte auf dem Chronometer eine Sechsstundenfrist und verstellte die Drehscheibe, die der Droge mitteilen würde, wie langsam ich es angehen lassen wollte. Wie üblich wurde mir schwindelig, als die Wirkung des Synchromasch einsetzte. Dass mein Zeitablauf sich bereits verlangsamt hatte, erkannte ich an der rasenden Bewegung des Minutenzeigers, der so schnell rotierte wie eine Zentrifuge. Die meisten Zuschauer hatten sich bereits eingestellt; nur einige wenige waren noch im normalen Zeitablauf verhaftet, was man an ihren ruckartigen Bewegungen sah.
Mezereums Stimme hatte sich um mehrere Oktaven gehoben, so dass sie wieder ganz normal und verständlich klang: »… von der Familie Gentian, des Hauses der Blumen«, stellte sie sich gerade auf Trans vor. »Sie befinden sich jetzt in unserem Gewahrsam, auf einer Welt, deren Name und Position ich nicht preiszugeben gedenke. Wir wollen keine Gerechtigkeit, sondern kaltblütige Vergeltung.«
Der Gefangene schwieg. Allerdings wirkte er inzwischen ganz lebendig, denn er zerrte an den Fesselgurten und behielt Mezereums Bewegungen im Auge.
»Allerdings wären wir bereit, im Austausch gegen Informationen Zugeständnisse zu machen«, sagte sie und wandte das Gesicht kurz dem Publikum zu; die Kleidung schränkte ihre Beweglichkeit nicht ein. »Wir haben vier von Ihnen gefangen genommen, doch wir brauchen nur mit einem von Ihnen zu sprechen. Ihre Stasiskammern wurden beschädigt – deshalb stehen Ihre Aussichten, unbeschadet in die Normalzeit zurückzukehren, nicht sehr gut. Wenn Sie jedoch bereitwillig unsere Fragen beantworten, werde ich alles in unserer Macht Stehende unternehmen, um Sie am Leben zu erhalten. Jedoch nur unter der Voraussetzung, dass Sie kooperieren. Nur wenn Sie uns ohne Ausflüchte und unmissverständlich antworten.« Mezereum stemmte eine Hand in die Hüfte. »Wie entscheiden Sie sich?«
Der
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