Das Haus der Sonnen
eine hauchdünne Schale, vergleichbar dem papierenen Kadaver, der zurückbleibt, wenn eine Spinne ein Insekt verdaut hat.
In der Mitte des Hohlraums schwebte eine Raumstation, an der bereits etwa ein Dutzend Shuttles und leichte Raumfahrzeuge angedockt hatten. Wir legten ebenfalls an, stiegen aus und wurden von den Vertretern der Marcellin-Familie begrüßt. Man bewirtete uns, führte uns Präsentationen und Modelle vor und gab uns das Gefühl, wichtig zu sein. Zahlreiche Erwachsene redeten mit mir, und die meisten hatten Mühe, den Mittelweg zwischen Herablassung und Offenheit zu finden. Alle wussten, dass ich fünfunddreißig Jahre alt war, doch das vergaßen sie leicht, da ich aussah wie eine Zwölfjährige und auch so redete. Nach und nach aber begriff ich, was Ludmilla Marcellin vorhatte.
Am Ende wollte sie über eintausend Raumschiffe verfügen. Sie sollten auf unterschiedlichen Kursen in den interstellaren Raum starten und jeweils ein anderes Sonnensystem anfliegen. Einige Schiffe brauchten bis zu ihrem ersten Ziel nur etwa ein Dutzend Lichtjahre zu überwinden. Andere würden zwanzig, dreißig oder noch mehr Lichtjahre weit fliegen müssen.
Und jedes Raumschiff hätte Ludmilla Marcellin an Bord.
Genauer gesagt, jedes Schiff würde ein Duplikat von Ludmilla Marcellin an Bord haben: einen Klon mit der Persönlichkeit und den Erinnerungen der genetischen Vorlage. Sie beabsichtigte, sich in tausend Facetten aufzusplittern und im interstellaren Raum zu verteilen.
Schließlich traf sie selbst ein; zuvor hatte sie mit einem Shuttle eines der neuen Raumschiffe inspiziert. Sie war eine hochgewachsene, bezaubernde Erscheinung. Ihr Charisma ließ den Raum erstrahlen, als wäre sie die einzige Lichtquelle. Sie hatte eine tiefe, energische Stimme. Unwillkürlich nahm man ihr ab, dass sie ihre Pläne verwirklichen würde, so ausgefallen sie auch sein mochten.
»Ich vertraue auf den menschlichen Erfindungsgeist«, sagte Ludmilla Marcellin. »Ich bin der festen Überzeugung, dass wir nicht ewig am kleinen Lagerfeuer dieses durchschnittlichen Sterns hocken bleiben werden. Wir leben jetzt seit tausend Jahren im Weltraum, und die Goldene Stunde ist älter als jeder lebende Mensch. Es fällt leicht zu glauben, dass es ewig so weitergehen und dass dieses stabile Arrangement uns so lange genügen wird, bis die Sonne erlischt. Doch das wird es nicht. Im Vergleich mit der vor uns liegenden Zukunft sind diese tausend Jahre nur ein Augenblick, ein Atemholen, bevor das eigentliche Abenteuer beginnt. Ich beabsichtige, eine der Ersten zu sein, die daran teilnehmen. Schon bald werden meine Raumschiffe fertiggestellt sein – eine Flotte von eintausend wundervollen Bussardkollektoren. An Bord eines jeden Raumschiffs wird sich jeweils einer der Klone befinden, die ich von mir anfertigen werde – einer meiner Splitterlinge, wenn Sie so wollen. Die Schiffe werden sie versorgen – eine Besatzung ist nicht erforderlich. Meine Klone werden eingefroren werden, bis sie ihr Ziel erreicht haben, wo sie wieder aufgetaut werden. Sie werden die Raumschiffe verlassen und neue Welten und Monde erkunden. Sie werden Dinge sehen, die noch kein anderer Mensch je erblickt hat. Wenn sie genug gesehen haben, werden sie ihre Reise fortsetzen. Jedes Schiff wird drei festgesetzte Ziele ansteuern und dabei immer weiter in die Galaxis vordringen. Nach Erreichen des dritten Ziels werden die Splitterlinge in unbekanntes Gebiet vordringen, für das uns bislang keine verlässlichen Daten vorliegen – sie werden Sternsysteme besuchen, die außerhalb des Bereichs unserer Robotsonden liegen. Die Splitterlinge werden unter Berücksichtigung des Wissens, das sie seit Verlassen der Goldenen Stunde erworben haben, selbstständig entscheiden müssen, wohin sie reisen. Sie werden einen neuen Kurs festlegen und weiterfliegen. Inzwischen werden seit Beginn der Reise mehr als hundert Jahre verstrichen sein. Viele von Ihnen werden tot und begraben sein, während ich gerade erst Fahrt aufnehme. Die Splitterlinge werden weitere Sterne besuchen, werden die Luft und den Erdboden von Welten zu schmecken bekommen, die noch keinen DNA-Strang gesehen haben. Sie werden in fremden Meeren schwimmen und ihren Erfahrungsschatz stetig mehren. Und dann – in vier-, fünfhundert Jahren, um die Mitte des gegenwärtigen Jahrtausends herum – werden sie ihre großen Raumschiffe wenden und Kurs nach Hause nehmen.«
Ludmilla Marcellin hielt inne. Sie musterte uns mit strenger Kühle, dann
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