Das Haus der Sonnen
wiedererkennen.«
Das Fragment in der Hand, schob Mezereum mit den Füßen seine sterblichen Überreste beiseite und trat vor die zweite Kammer. Sie legte die Hand auf den Steuerhebel, um den Gefangenen in die Reichweite des Synchromasch zu bringen.
VIERTER TEIL
Eines Tages schritt der kleine Junge wieder einmal in Begleitung seiner Robot-Leibwächter die Rampe zu seinem Schiff hoch. Ich ahnte nicht, dass es das letzte Mal sein sollte, dass ich ihn sah; ich wusste nur, dass wir einen weiteren Nachmittag im Puppenpalast verbracht und das lange Spiel des Reiches gespielt hatten. Allerdings war es nicht das letzte Mal, dass ich Graf Mordax zu Gesicht bekam.
Damals war ich nach gewöhnlichen Maßstäben fünfunddreißig; nach objektiven Maßstäben war ich immer noch ein Mädchen von elf oder zwölf Jahren – ein ungewöhnlich altkluges Mädchen mit dem Erinnerungsschatz einer Erwachsenen (auch wenn meine Erfahrungen sich auf das Leben in ein und demselben Haus beschränkten), aber nichtsdestoweniger ein Mädchen. Nach dreieinhalb Jahrzehnten kamen meine Hüterinnen jedoch zu dem Schluss, es sei für mich an der Zeit, meine Entwicklung im normalen Tempo fortzusetzen. Ich wurde in Madame Kleinfelters Büro gerufen, und sie bat mich, den Ärmel hochzukrempeln. Madame Kleinfelter berührte den Höcker mit einem stumpfen Stift, ich verspürte ein Prickeln, und damit war’s geschehen. Der Höcker war verschwunden und damit auch die biologische Maschinerie, die meinen Alterungsprozess unterbrochen hatte.
Natürlich fühlte ich mich nicht anders als zuvor. Allerdings hatte eine Uhr, die jahrelang stillgestanden hatte, wieder zu ticken begonnen.
»Warum gerade jetzt?«, fragte ich.
»Als du geboren wurdest«, antwortete Madame Kleinfelter, »war keine Rede davon, deine Entwicklung so stark hinauszuzögern. Eine moderate Verlängerung der Kindheit, das ja … das ist heutzutage in der ganzen Goldenen Stunde die Norm. Weshalb sollte man die Kindheit durcheilen, wenn man mehrere Hundert Jahre vor sich hat? Aber fünfunddreißig Jahre lang in der Vorpubertät fixiert zu werden … das ist ungewöhnlich, selbst nach heutigen Maßstäben.« Sie legte den Stift weg und setzte die Spitzen ihrer dicken, krummen Finger gegeneinander, was sie häufig tat, wenn sie einen Vortrag hielt. »Das geschah auf Verlangen deiner Mutter, Abigail – damals hatte sie noch mehr lichte Momente. Die Spezialisten überzeugten sie davon, dass ihr Wahnsinn sich im Laufe der Zeit legen würde. Allerdings betonten sie, dass es eine Weile dauern könnte – vielleicht sogar Jahrzehnte. Deine Mutter wollte deine Entwicklung aufhalten, damit sie nach ihrer Genesung Gelegenheit hätte, sich deiner Kindheit zu erfreuen. Natürlich hätte sie dich auch einfrieren lassen können … aber sie hat sich nun mal für diese Methode entschieden. Sie wollte dich in wachem Zustand erleben, wollte sehen, wie du lernst und spielst. Sie wollte keine Puppe in einem Tank betrachten.« Sie schob die Finger ineinander. »Aber der Zustand deiner Mutter verbessert sich nicht. Wenn ich dir gelegentlich ungerechtfertigte Hoffnung gemacht haben sollte, so entschuldige ich mich dafür. Das geschah in guter Absicht. Es war mir immer um dein Wohl zu tun, Abigail.«
»Dann wird meine Mutter also nie mehr gesund werden.«
»Die Ärzte bemühen sich weiterhin. Aber die Psychose hat jetzt volle Gewalt über sie. Alle Maßnahmen, die ergriffen wurden – und das sind immerhin die besten Ärzte der Goldenen Stunde -, haben ihren Zustand nur noch weiter verschlechtert. Die lichten Momente wurden immer seltener. Vielleicht wird man schon morgen ein Heilmittel finden, aber darauf können wir uns nicht länger verlassen. Was die schwierige Frage der Familiengeschäfte aufwirft. Da die Heilungsaussichten für deine Mutter so gering sind, müssen wir mutig in die Zukunft blicken.«
»Damit bin wohl ich gemeint«, sagte ich. Mir war schwindelig, als hätte ich mich zu rasch erhoben.
»Der Weg, der vor dir liegt, wird nicht einfach sein, Abigail. Du wirst jetzt erwachsen werden. Du wirst zur Frau reifen. Und wenn die Zeit gekommen ist, wirst du in die Fußstapfen deiner Mutter treten. Du wirst die Familie führen, wie sie es früher getan hat. Alles, was sie aufgebaut hat, all das Wissen und die Erfahrung, die sie angehäuft hat, wird in deinen Händen liegen. Am besten lässt sich das mit einem Schmuckstück von unschätzbarem Wert vergleichen, einem Geschmeide aus zerbrechlichem Glas
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