Das Haus der Sonnen
passende Zeitpunkt für schnodderige Bemerkungen«, meinte Betonie warnend.
Campion erhob sich achselzuckend, denn er wusste genau, wann er besser den Mund hielt. Ich folgte ihm zum Geländer, wo wir uns außer Hörweite befanden. Wir hatten bis jetzt kaum miteinander gesprochen. Als ich aufwachte, war er bereits auf gewesen, hatte auf dem Balkon auf einem Stuhl gesessen und mit geröteten Augen die dunklen, silbernen Dünen betrachtet. Als er mich bemerkte, versuchte er, seine Tränen wegzureiben.
»Wir stehen das durch«, sagte ich jetzt zu ihm.
Er nahm meine Hand und drückte sie. »Ich weiß. Das sage ich mir auch ständig. Aber ich empfinde ganz anders. Wenn du mir sagen würdest, die Familie Gentian wird morgen erlöschen, dann fiele es mir leicht, dir zu glauben.«
»Wir müssen jetzt stark sein. Wenn die Nacht am tiefsten … und so weiter.«
Campion schaute weg. »Auf solche Sprüche kann ich gut und gerne verzichten.«
»Du weißt, dass es in beinahe jeder Kultur eine solche Redewendung gibt. Auch dafür gibt es einen Grund. Manchmal muss man eben die Zähne zusammenbeißen, weitermachen und darauf vertrauen, dass es besser wird. Auf diese Weise haben wir in der Vergangenheit überlebt. In unserer Geschichte ist es schon häufiger so eng geworden, dass es auch anders hätte ausgehen können, wenn wir aufgegeben und uns ins Unvermeidliche geschickt hätten. Einige dieser Situationen hätten unser Ende bedeutet, wenn nicht ein paar irrationale, unbeirrbar optimistische Leute sich an den Hoffnungsfaden geklammert hätten.«
»Glaub mir, ich klammere mich. Aber dieser Faden ist gerade ein ganzes Stück dünner und ausgefranster geworden.«
»Dann müssen wir uns erst recht festklammern. Es wird auch wieder eine Wendung zum Guten nehmen. Es tut mir sehr leid, dass Miere gestorben ist, aber das zeigt uns, dass wir der Wahrheit allmählich näher kommen. Jemand hat so große Angst bekommen, dass er sie getötet hat. Das bedeutet, wir stehen dicht davor, an wichtige Informationen heranzukommen.«
»An wichtige Informationen, die jetzt unwiederbringlich verloren sind.«
»Jemand muss dort weitermachen, wo sie aufgehört hat. Miere war die logische Wahl für die Rekonstruktion deines Strangs, aber das heißt nicht, dass nicht auch jemand anders dazu in der Lage wäre. Es wird jetzt halt ein bisschen länger dauern.«
»Vielleicht hat es der Verräter ja darauf angelegt, ein bisschen Zeit zu gewinnen, bis es irgendwann nicht mehr darauf ankommt.«
Ich wand mich unbehaglich, denn darauf wusste ich keine Antwort. »Ich weiß, was Miere dir bedeutet hat, Campion. Ihr Tod muss dir furchtbar zusetzen.«
»Bist du mir deswegen böse?«
»Weil du sie gemocht hast? Das wäre ziemlich kleinlich von mir, meinst du nicht? Zumal jetzt. Sie war eine der Besten. Außerdem war sie wunderschön – glaub ja nicht, das wäre mir nicht aufgefallen. Ich kann es dir nicht übelnehmen, dass du sie bewundert hast.«
»Ich bin froh, dass ich dich habe. Und ungeachtet der Gefühle, die ich Miere entgegengebracht habe, wäre mir nie in den Sinn gekommen, sie mit dir zu vergleichen.«
»Ich weiß«, sagte ich und legte den Finger auf die Lippen. »Du brauchst das nicht zu sagen. Lass es gut sein. Bleib … einfach bei mir, okay? Geh nicht weg, niemals.«
»Ich lass dich nicht allein«, sagte Campion.
FÜNFTER TEIL
Ich hielt den Brief in Händen. So feines Papier hatte ich noch nie berührt; es war so glatt wie das Ohr eines Welpen und duftete wie das Kissen einer Kurtisane. Es roch nach Lilien und Mandeln und den kostbaren Gewürzen der Fernen Inseln, jenem Archipel am Rande der bekannten Welt, jenseits des Königreichs, jenseits der umliegenden Reiche, jenseits der Schildberge, jenseits der angrenzenden Meere, jenseits des gefährlichen Weißen Krakenmeers. Das Wachssiegel war eine schwarze Münze, in die das gewollt beunruhigende Zeichen des Grafen Mordax eingeprägt war, ein Fallgitter aus Menschenknochen. Ich brach das Siegel mit dem Fingernagel und faltete das steife Papier auseinander; mein banges Herz nahm die Nachricht, die ich darin zu finden erwartete, bereits vorweg.
Ich wurde nicht enttäuscht, falls dies der passende Ausdruck ist, um meine Empfindungen zu beschreiben. Der Brief war von meinem Stiefbruder, von Mordax persönlich. Seine Handschrift war elegant und so herrisch wie eh und je. Liebesbriefe schrieb er auf die gleiche Weise wie Todesurteile. Dies hier war etwas anderes.
Er teilte mir mit, meine
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