Das Haus der Sonnen
Palastreiter hineinversetzt, dann in einen Spion, der behauptete, er kenne das Versteck des Zauberers Calidris. Der Reiter erreichte die Schwarze Burg, wo man ihn zur Rede stellte und schließlich einließ, da er unbewaffnet war und (wie er behauptete) über wichtige Informationen verfügte. Er wurde von Graf Mordax empfangen, stellte jedoch fest, dass er sich nicht in ihn hineinversetzen konnte. Die Regeln des Spiels waren geheimnisvoll, und wir mussten sie uns mittels Versuch und Irrtum aneignen. Eine Regel, die erst nach und nach deutlich wurde, besagte, dass man sich nur dann in eine andere Person hineinversetzen konnte, wenn damit kein allzu großer Sprung in der sozialen Hierarchie einherging. Ein Bauer konnte auch dann nicht zum König werden, wenn der König niederkniete und den Bauern küsste. Allerdings konnte der Bauer zu einem Huf- und dann zu einem Waffenschmied aufsteigen und schließlich Offizier in der Leibgarde des Königs werden – und so weiter. Man arbeitete sich in kleinen Schritten immer weiter nach oben. Manchmal war es unmöglich, zwischen zwei Spielabschnitten die Person zu wechseln, doch dies alles war Teil des verwickelten Spielgefüges. Das Spiel war schwierig und zeitaufwendig, doch da man bei jedem Schritt auf die Erinnerungen und die Persönlichkeit der Spielfigur zurückgreifen konnte, war es selten langweilig. Häufig war die angenommene Persönlichkeit so dominant, dass man Mühe hatte, den Plan weiterzuverfolgen, den man drei oder vier Charaktere weiter unten auf der sozialen Leiter gefasst hatte. Ich selbst wagte mich nur selten von der Persönlichkeit der Prinzessin fort: Hin und wieder versetzte ich mich jedoch in ihre Höflinge hinein, um mich zu vergewissern, dass sie keine Ränke schmiedeten. Als ich auf eine potenzielle Verräterin stieß – eine Magd, deren Bruder beim unerlaubten Betreten des Palastgeländes ertappt und hingerichtet worden war -, ließ ich sie von meinem obersten Verhörmeister befragen. Ehe sie ihre Absicht, mich zu töten, gestanden hatte, war sie gestorben, doch ich war nach wie vor überzeugt von ihrer Schuld.
Inzwischen hatte sich herausgestellt, dass der Puppenpalast niemals zur Massenherstellung zugelassen werden würde. Mehr als die etwa ein Dutzend Prototypen, zu denen auch mein Palast gehörte, würde es nicht geben. Obwohl die Einzelheiten unklar blieben und ich weitgehend auf die Informationen des kleinen Jungen angewiesen war, schien es so, als sage man dem Spiel ungünstige Auswirkungen auf die Psyche der Kinder nach, die es spielten. Die Kinder übertrugen einen Teil der Erinnerungen und der Charakterzüge ihrer Spielfiguren auf die reale Welt außerhalb des grünen Kubus – obwohl die Maschine angeblich die flüchtigen Gehirnzustände löschen sollte, wenn sie durch den Eingang wieder nach draußen traten. Auf mich traf das zu – im Palast war die Prinzessin für mich so real wie jede wirkliche Person und in gewisser Hinsicht, da ich mich in sie verwandelte, sogar noch realer, doch in dem Moment, da ich ins größere Spielzimmer trat, schien sie zu schrumpfen und wirkte auf einmal nicht realer als eine Abbildung in einem Buch. Ihre Erinnerungen, die auch die meinen waren, solange ich spielte, verflüchtigten sich wie ein Traum, dessen Einzelheiten man schon beim Aufwachen nicht mehr greifen kann. Ich erinnerte mich noch an die Freuden und Enttäuschungen des Spiels, ich erinnerte mich an die Fakten und den aktuellen Spielstand, doch von außerhalb des grünen Raums aus betrachtet hätte es sich auch um ein ganz gewöhnliches Puppenhaus handeln können.
Der Konzern war vor Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit den Prototypen des Puppenpalasts geschützt – die Familien hatten vor der Teilnahme am Versuchsbetrieb Unterlassungserklärungen unterzeichnen müssen -, doch wenn man die Massenherstellung aufgenommen und in der Goldenen Stunde Millionen Puppenpaläste abgesetzt hätte, wäre dieser Schutz hinfällig geworden. Selbst wenn nur bei einem kleinen Teil der Kinder wahnhafte Störungen aufgetreten wären, hätte dies zum Ruin des Konzerns führen können.
Deshalb wurde die Weiterentwicklung des Spiels eingestellt. Der Konzern versuchte, die Prototypen zurückzurufen, was ihm jedoch nur teilweise gelang. Die Kinder waren inzwischen so besessen von dem Palast, dass sie auf ihre Phantasiewelt nicht mehr verzichten wollten. Einige Familien ließen die Prototypen von Technikern wieder abbauen, doch den meisten Kindern gelang es, ihr
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