Das Haus der Tänzerin
hatte das Gefühl, als wäre eine schwere Last von ihr genommen worden. Mit erhobenem Kopf lief sie an der Außenmauer entlang. Mit den Fingerspitzen streifte sie die Blätter der Pflanzen, und sie stellte sich vor, wie sie blühten. Rosas Garten wurde wieder zum Leben erweckt, und der aromatische Duft von Basilikum, Minze und Rosmarin erfüllte die Luft. Im Geiste beschwor sie die Düfte herbei, stellte sich einen Wirbelwind von Blütenblättern vor, der herabregnete. »Nordwind, erwache!«, sagte sie leise und zitierte aus dem Hohelied, wie Liberty es so oft getan hatte, als Emma noch klein gewesen war. »Südwind, herbei! Durchweht meinen Garten, lasst strömen die Balsamdüfte! Mein Geliebter komme in seinen Garten.«
Nachdem sie nach Joseph, der in seinem Bettchen lag, gesehen und das Feuer in der Küche angezündet hatte, ging Emma wieder nach draußen. Sie wickelte sich eine dicke Wolljacke um ihr Kleid und setzte sich hin, um auf Delilah zu warten und die Sonne untergehen zu sehen.
Das Gartentor flog auf. »Wenn ich das nächste Mal zu so einem verdammten Stierkampf gehe, dann erinnere mich daran, sombra zu nehmen und nicht sol , okay?« Delilah stakste auf die Terrasse. Sie hatte einen Sonnenbrand im Gesicht, ihre Augen waren weiße Kreise. »Du hättest mir sagen können, wie stark die Sonne hier ist. Wieso stehen meine Koffer im Gang?«
Emma wandte sich zu ihr um. »Weil du jetzt gehst.« In aller Ruhe steckte sie die Briefe ihrer Mutter wieder in das Lackkästchen und nahm es unter den Arm.
»Was?«
Emma trat auf sie zu und nahm dabei die Verträge mit. »Weil du jetzt gehst, habe ich gesagt.«
»Ich kann jetzt nicht gehen! Es wird Nacht – du weißt, ich kann nicht bei Dunkelheit fahren.«
»Gut.« Emma drängte sich an ihr vorbei. »Dann fahr morgen früh. Luca und ich müssen gleich morgens zu einer Besprechung. Ich möchte, dass du weg bist, wenn ich wiederkomme.«
»Moment, Em, was hat er dir erzählt?« Delilahs Augen funkelten.
»Fang nicht an, Lila.« Emma ging zum Angriff über. »Du brauchst nicht glauben, dass du das irgendwie anders drehen kannst. Es ist vorbei.« Sie warf ihr die Verträge hin. »Ich habe unterschrieben. Verkauf die Firma, nimm das Geld, und verschwinde aus meinem Leben.«
»Und das ist alles?«, rief Delilah ihr nach. »Nach all den Jahren?«
»Ich wünschte, du wärst mir nie begegnet.«
»Du kannst mich nicht einfach stehen lassen. Wie kannst du nur?«
Emma warf ihr einen bösen Blick über die Schulter zu. »Das ist ganz einfach. Schau zu.«
63
Valencia, März 2002
Das Zeichen zum Anlegen der Sicherheitsgurte leuchtete auf. Freya blickte hinunter auf den Lichterteppich unter ihnen, die Kreisverkehre und Straßen, die vor sechzig Jahren noch nicht da gewesen waren. Die Straßen glühten orangefarben im Licht des frühen Morgens. »Wir sind da, Charles. Wir sind zurück.«
Charles schlug die Augen auf und blickte aus dem Flugzeugfenster auf das rosa Licht, das sich im Glas brach, als die Maschine zum Landeanflug am Flughafen von Valencia ansetzte.
»Ich habe nachgedacht, Frey. Weißt du noch? Als sie versucht haben, uns Libby wegzunehmen?«
»Das werde ich nie vergessen. Nie.«
»Ich dachte, du würdest mir nie verzeihen, dass ich behauptet habe, sie sei umgekommen.«
Freya nahm seine Hand. Sie erinnerte sich, wie Charles eines Tages in Cornwall aufgetaucht war. Sie hatte seine Briefe, seine Anrufe ignoriert. Am Bamaluz Beach kam er auf sie zu, völlig fertig und derangiert. Sie hatten dagestanden und einander angesehen, während Liberty im Wasser herumplanschte, ohne etwas von den Geschehnissen zu bemerken. Freya hatte den ersten Schritt gemacht, und sie hatten einander fest umarmt, als sich ihre seltsame kleine Familie unter dem weiten, strahlenden Himmel wiedervereinte. »Das ist lange her.« Sie blickte die spanische Küste entlang, das Meer glitzerte in der Ferne.
»Ich saß gestern Abend da und habe über die Taufe nachgedacht und darüber, dass Delilah einfach so aufgetaucht ist. Ich dachte an Rosa. Es ist das Schlimmste, was einer Mutter passieren kann: ihr Kind zu verlieren.«
Freya schüttelte den Kopf. »Komm schon, Charles, nun verlierst du aber den Verstand.« Sie drückte seine Hand. »Der Fluch der del Valles – glaubst du daran? Dafür bist du doch viel zu vernünftig.«
Er schaute seine Schwester an. »Du weißt doch, wie labil sie ist. Der letzte Versuch ist zwar fehlgeschlagen, aber …« Charles runzelte die Stirn. »Vielleicht
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