Das Haus der tausend Blueten
und schnaubte sich geräuschvoll. »Diese Karte wird euch leiten. Ich habe euren Weg mithilfe von Landmarken skizziert. Auf dem Khenzimana-Pass werdet ihr die indische Grenze überschreiten. Zeigt den Beamten dort diese Papiere.« Sie übergab ihnen zwei Schriftrollen. »Sagt ihnen, wer ihr seid, und dass ihr um politisches Asyl bittet. Falls sie euch nicht verstehen, wiederholt immer wieder den Namen des Dalai Lama. Was auch immer geschieht, sie dürfen euch auf keinen Fall zurückschicken.«
»Nehmt auch diesen Feuerbeutel mit.« Die Äbtissin gab ihnen ein ledernes Säckchen. »Darin befinden sich Feuersteine, Zunder und ein paar Schachteln mit Streichhölzern. Passt auf, dass er nicht nass wird. Dieser Beutel wird euch mehr als alles andere am Leben erhalten.«
Die Äbtissin sprach mit leiser, gepresster Stimme. Ihre Worte knisterten wie trockene Blätter. Vor allem aber war es das, was sie nicht sagte, was Sum Sum blass werden ließ. Sie verstand die Warnung, die im Gesicht der alten Frau zu lesen war. Wenn ihr diesen Beutel verliert, werdet ihr mitten im Nirgendwo erfrieren.
Und zum ersten Mal sah Sum Sum, dass Jampa vor Sorge dunkle Ringe unter den Augen hatte.
Die Äbtissin gab ihnen Stiefel für die lange Reise. Die Sohlen bestanden aus dickem Yakleder, die oberen Teile waren aus Ochsenleder gefertigt. Jampa bestand darauf, dass die Mädchen ihre Füße zum Schutz gegen die Kälte mit einem Tuch umwickelten, bevor sie in die Stiefel schlüpften. Falls das Tuch irgendwann durchgescheuert war, sollten sie ihre Stiefel mit Yakhaar ausstopfen.
» Ndug’re! Ich habe hier noch etwas für dich«, sagte die Äbtissin zu Sum Sum. Sie übergab ihr einen Stapel Briefe, der mit Zwirn verschnürt war. »Das sind alles Briefe von deiner Freundin in Malaysia. Wie haben sie für dich aufbewahrt. In der Regel erlauben wir in den ersten zwanzig Jahren keinen Kontakt von außerhalb, aber wir haben das Gefühl, das du es dir verdient hast.«
Sum Sum neigte ihren Kopf und klemmte sich die Briefe unter den Arm. Einen Moment lang sagte sie kein Wort. Es hatte ihr die Sprache verschlagen. Lu See hatte ihr also die ganze Zeit geschrieben, und sie hatte es nicht erfahren. Schließlich sagte sie: »Darf ich etwas fragen? Ich möchte jemandem, einem Freund, mitteilen, dass ich von hier fortgehe. Würdest du, wenn ich dieser Person eine kurze Nachricht schreibe, dafür sorgen, dass sie abgeschickt wird?«
Jampa versicherte ihr, dass sie das tun werde.
Sum Sum zögerte, bevor sie fortfuhr. »Da ist noch mehr. Ich habe eine unserer Regeln gebrochen. In den letzten Monaten habe ich mehrmals einen Postkurier, einen dakpa, mit Nachrichten über die Grenze geschickt. Ich wollte, dass dieser Freund erfährt, was hier in Tibet geschieht, da ich hoffte, er könnte irgendwie helfen. Jetzt möchte ich ihn einfach nur wissen lassen, dass ich am Leben bin.«
Die Äbtissin nickte stumm.
Sum Sum und Tormam wurden mit Jacken aus Schaffell, die mit der wollenen Seite nach außen getragen wurden, Mützen mit Ohrenklappen, dicken Handschuhen und mehreren Schichten warmer Unterkleidung ausgestattet. Beide banden sich jeweils acht Tael Silber in einem Tuch um ihre Taille und hängten sich ihre Amulette in Form von Gebetskästchen um den Hals. Sie füllten kleine Lederbeutel mit Tee, Butter und Gerstenmehl. Dann begleitete Jampa sie zum Gebetssaal, wo die Äbtissin sie mit einem heiligen Tantra segnete.
»Sieh dich nur an. So ruhig wie der Namtso-See an einem Sommertag, lah «, sagte Sum Sum zu Tormam.
Ihre Freundin warf ihr ein nervöses Lächeln zu.
Sie brachen in der Morgendämmerung auf. Beide trugen zwei Umhängetaschen. Tormam hatte man das goldene Bildnis von Shakyamuni Buddha anvertraut, Sum Sum war für die Figur der Harit Tara verantwortlich.
Die Nonnen stellten zu ihren Ehren Gebetsfahnen auf. Als Jampa sie zum Abschied umarmte, versuchte Sum Sum etwas zu sagen, aber sie brachte keinen Ton heraus. Es kam ihr vor, als hätte sie Steine im Mund.
Sie gingen in gleichmäßigem Tempo zuerst nach Südwesten auf vereinzelte Behausungen zu, die beinahe vollständig aus Ziegen- und Ochsenhorn bestanden, dann weiter auf den knapp fünftausend Meter hohen Chela-Pass zu. Ein prüfender Blick zurück zeigte ihnen, dass sie nicht verfolgt wurden.
Sie gingen, bis der Mond hoch über ihnen am Himmel stand. In dieser ersten Nacht suchten sie in einer Felsenhöhle Unterschlupf. In weiter Ferne schimmerten wässrige orangerote Lichter: die
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