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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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den sparsamen Bewegungen abzusehen. Ich erkannte seine Stimme sofort, hatte sie ja von Anfang an in meiner Bewusstlosigkeit gehört: ›Wie fühlst du dich heute, mein Sohn?‹
    Ich hatte verlernen müssen, danke zu sagen. Aber jetzt kam mir dieses Wort ganz geläufig über die Lippen. Ich sagte: ›Ja, danke, es geht mir wieder gut.‹
    Fältchen zeigten sich in seinen Augenwinkeln.
    ›So gefällst du mir besser!‹
    Er schob die Decke beiseite, wickelte den Verband auf, säuberte sehr sorgfältig die Wunde, die eine Kruste gebildet hatte.
    ›Der Knochen scheint gut zu heilen‹, sagte er. ›Aber du brauchst noch viel Ruhe und gute Pflege.‹
    Er legte den Verband wieder an, verknotete ihn so fest, wie ich es ertragen konnte. Ich biss die Zähne zusammen. Meine Schmerzen waren unbedeutend im Vergleich zu alldem, was ich mitgemacht hatte. Zum Schluss befestigte er mit sanften, geschickten Fingern die Stäbe, die den Bruch stützten.
    Ich fragte, wo ich denn sei. Er lächelte mir heiter zu.
    ›In einem heiligen Haus.‹
    Demnach befand ich mich in einem Kloster. In meiner Schwäche entsann ich mich, dass der alte Mann, dessen Vorname Tsering lautete, mit dem Ehrentitel ›Geshe‹ angeredet wurde. Mein gütiger Pfleger war also der Abt.
    ›Nun, mein Sohn‹, fragte er, ›hast du jetzt Hunger und Durst?‹
    ›Ja, ich habe großen Hunger‹, erwiderte ich überrascht.
    Er blinzelte mir zu.
    ›Und das wundert dich?‹
    Er entfernte sich und kam einige Augenblicke später mit einer Schüssel Gerstenbrei, einem Holzlöffel und einem Krug
Buttertee zurück. Ich schlürfte gierig den Tee, aß mit Heißhunger den Gerstenbrei. Der Abt saß neben dem Lager und ließ mich nicht aus den Augen. Und bei jedem Bissen, jedem Schluck, nickte er glücklich mit dem Kopf.
    ›Du hast ganz von allein wieder Hunger gekriegt, das ist gut.‹
    Seltsam, wie das Leben zu mir zurückkehrte, jeden Tag ein wenig mehr! Es musste mit dem Summen der Gebetsmühlen zusammenhängen, die unentwegt von den Mönchen gedreht wurden. Beim Vorbeigehen legten sie einfach ihre Hand darauf und gaben den Mühlen einen leichten Stoß, sodass ihr zärtliches Summen wieder ertönte. Es war, als ob dieses leise, stetige Geräusch mir mein Leben zurückbrachte. Ja, das Leben kam wieder, rieselte durch meine gelähmten Glieder wie der Saft in einem verdorrten Baum. Nach den ersten Bewegungen, nach dem ersten Gefühl, dauerte es auch nicht lange, bis meine Kraft zurückkehrte und gleichzeitig auch die Fähigkeit zum Denken.
    Ich fragte Tsering Geshe: ›Ehrwürdiger Meister, wie habt Ihr mich gefunden?‹
    Da hob ein Seufzer seine Brust.
    ›Wir dachten, du seist nicht mehr am Leben.‹
    Ich antwortete zitternd: ›Ich hatte nicht gedacht, dass es noch etwas gab, das mir guttun könnte. Ich wollte sterben!‹
    In weicher, schöner Bewegung schob er den Ärmel seiner Robe über die hagere Schulter.
    ›Solche Gedanken sind deiner Jugend nicht angemessen.‹
    ›Nein, nein, ich bin alt‹, stieß ich hervor.
    Er hob die Brauen mit verhaltenem Spott.
    ›Oh, wie alt denn, mein Sohn?‹
    Meine Stimme brach.
    ›Ich glaube, ich bin … hundert Jahre alt!‹
    Er überhörte absichtlich, wie bitter das klang. Dafür deutete er scherzhaft eine Verbeugung an.

    ›Willst du, mein Sohn, mich beschämen? Ich selbst bin dieser Weisheit noch fern!‹
    Ich senkte verwirrt den Kopf. Da ich aber merkte, dass er mich neckte, lächelte ich scheu zurück.
    ›Ich … ich werde fünfzehn.‹
    Er nickte.
    ›Somit stehst du erst am Anfang deiner Ausbildung. Die Früchte deines Lebenswerks wirst du später ernten.‹
    Seine gutherzige Art war es, die mich gesund machte. Körper und Geist heilten. Nachts schlief ich traumlos und gut. Jeden Morgen wurde ich auf neue und erfrischende Weise wach; mein ganzes Wesen schien die Dinge wahrzunehmen, einfach und licht. Nach einigen Tagen meinte der Abt, ich würde wieder gehen können, obwohl ich vermutlich hinken würde.
    ›Ich bin sehr zuversichtlich‹, sagte er. ›Aber du musst noch liegen. Was dir jetzt schwerfallen wird, ist Geduld.‹
    Und das stimmte. Die Zeit wurde mir lang. Doch die anderen Mönche kamen jetzt oft zu mir. Es waren nur wenige, vorwiegend ältere Männer. Sie setzten sich abwechselnd an mein Lager, lausten mich, brachten mir kleine Geschenke - einige Bergblumen, Nüsse oder das Ei einer Wachtel - und scherzten zum Zeitvertreib mit mir. Einer hatte ein Eichhörnchen gezähmt, ein reizendes kleines Tier, zutraulich

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