Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
Vom Netzwerk:
und geschmeidig, mit dem ich spielen durfte. Alle Mönche waren heiter und entspannt, wenn auch ein Kummer ihre Augen verdüsterte, der ihre langen Gebete umso flehender und inbrünstiger klingen ließ. Der Abt kam mehrmals am Tag, untersuchte meinen Puls, gab mir kleine Kügelchen zu schlucken, die nach bitteren Kräutern und Rinden schmeckten. Weil unter den vielen Fragen in meinem Kopf eine war, die mich besonders beschäftigte, wagte ich eines Tages, sie zu stellen.
    ›Ehrwürdiger Meister, habt Ihr denn nicht gesehen, dass ich die Uniform der chinesischen Pioniere trug?‹

    Er nickte gleichmütig.
    ›Oh ja, wir erkannten sie wohl!‹
    ›Wie kommt es, dass Ihr mich trotzdem gerettet habt?‹
    ›Wie sollten wir nicht? Die Lehren Buddhas verpflichten uns, allen leidenden Kreaturen zu helfen. Missachteten wir dieses Gebot, wären wir gewiss schlechte Menschen!‹
    Sein Lächeln kam wieder, stieg bis zu den Augen.
    ›Nun, wir brauchten uns nicht lange mit Zweifeln zu plagen. Wir wurden belohnt. Denn als wir dich berührten, hast du gebetet.‹
    Mich fror plötzlich. Eine Schwäche kam über mich, meine ganze Kraft war plötzlich dahin.
    ›Bevor ich … gerettet wurde, sah ich tote Mönche im Wald liegen.‹
    Auf einmal war es still. Ich hob den Kopf nicht, um mein Gesicht nicht zu zeigen. Ich hörte nur, wie Tsering Geshe schwer atmete. Schließlich sagte er dumpf: ›Sie gehörten zu einem Kloster, ganz in der Nähe. Sie waren unterwegs, um Holz zu sammeln. Wir hörten die Schüsse nicht, weil der Wind aus der anderen Richtung kam. Sonst hätten wir vielleicht Verletzte bergen können …«
    Ich saß vor ihm, mit gesenktem Kopf und fröstelnd vor Kummer.
    ›Ehrwürdiger Meister, lebt Ihr hier in Sicherheit?‹
    Er antwortete, gleichbleibend ruhig.
    ›Bis heute, ja. Unser Kloster ist so gebaut, dass man es vom Tal aus nicht sehen kann. Dazu ist es nur über Leitern zu erreichen, am steinernen Buddha vorbei. Die Leitern können wir bei Gefahr einziehen.‹
    Das Herz tat mir weh. Ich dachte, nun müsste auch ich erfrieren, wie die umgebrachten Mönche, von innen heraus.
    ›Ich sah Buddha weinen …‹
    Der Abt nickte traurig.
    ›Ja, der Barmherzige weint in dieser Zeit, denn sein Volk
wird verfolgt und sein guter Diener beleidigt. Es ist eine Zeit harter Prüfungen. Wir erdulden sie mit großen Schmerzen. Doch jede Prüfung hat einen Sinn.‹
    Bittere Spucke sammelte sich in meinem Mund. Meine Haut überzog sich mit einer Hülle aus Eis. In wimmerndem Ton brach ich in Tränen aus. Schreckliche Erinnerungen bestürmten mich, und bevor ich daran denken konnte, ihnen Einhalt zu tun, sprudelte alles, was ich bisher verborgen gehalten hatte, aus mir heraus. Ich kam in dem Strom kaum zum Atmen, doch ich ersparte mir keine Scham und vergaß über keine einzige meiner schändlichen Taten zu berichten. Und als ich von Qual schon fast aufgezehrt war, hatte ich einen erneuten Weinanfall so trockener Art, so tonlos, dass ich glaubte, daran zu ersticken. Da fühlte ich die Hand des Abtes, die leicht wie ein Schmetterling meine Schulter berührte, hörte seine ruhigen Atemzüge, seine unverändert sanfte Stimme.
    ›Schon wieder Tränen, mein Sohn? Lass das doch! Wer von uns ist ohne Schuld? Deine bösen Taten erkennst du. Nun hast du das ganze Leben vor dir, um sie auszugleichen.‹
    Das war alles, was er sagte, und er verlor darüber auch nie mehr ein Wort. Doch in den folgenden Tagen machte er mich mit Buddhas Lehre vertraut, jener großartigen Lehre, die uns hilft, Hass und Begierde zu besiegen, die Arglist zu erkennen, die in der Selbstsucht verborgen ist. Wir werden wieder und wieder ins Leiden hineingeboren, sagte Tsering Geshe, bis wir endlich, in heiliger Schönheit, die Erleuchtung erlangen. Aber bevor wir es so weit bringen, muss unser Körper, der ein Gefäß der Seele ist, diese in sich bewahren. Er war nicht erstaunt, als ich ihm daraufhin den Vorgang schilderte, der sich für mich in Einsamkeit und Schmerz unter Buddhas Augen vollzogen hatte, sondern sagte: ›Vergiss nicht, mein Sohn, in deinem Körper sind mehrere Körper, viele Körper in diesem Fleisch. Da ist die Mutter, der Vater, sind die Vorfahren, ja sogar die Tiere. Sie alle sind es, die deinen Körper heilig machen.‹

    Ich dachte über mein Leben nach, über meine guten und bösen Taten, über Buddha und das Schicksal. Auf diese Weise ging der Frühling vorbei. Als der Sommer begann, konnte ich mich wieder aufrecht halten, die ersten Schritte

Weitere Kostenlose Bücher