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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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fuchsroten Hengstes einem jungen Burschen zu, bevor er Tenzin und Longsela zu seinem Zelt in der Mitte des Rastplatzes geleitete. Das Zelt war aus robuster Yakwolle gesponnen, ebenso wie die Seile, die es hielten. Die herabhängenden Zeltbahnen waren am Boden mit großen Steinen beschwert. Kanam öffnete die Zeltklappe, hielt sie hoch, sodass beide Besucher das Zelt betreten konnten. Longsela staunte, wie geräumig es war. In der Mitte brannte ein kleines Feuer; es schien, als ob die Flämmchen einfach aus dem Boden loderten. Der Rauch stieg empor; der »Kung«, die Öffnung oberhalb des großen Firstzweiges, bewirkte, dass er gut abzog. Diese Öffnung ließ sich bei Regen oder Schneefall schließen, sodass die Wärme im Zelt blieb. Wie alle Tibeter schliefen auch die Nomaden nicht am Boden, sondern auf niedrigen Holzpritschen, die mit Teppichen, Fellen und Decken bedeckt waren. Viele Vorräte waren
in dem Zelt vorhanden, und man brauchte deshalb auch keine Angst zu haben, wenn starker Schneefall anhielt. An den Pfählen hingen Lederbeutel in verschiedenen Größen, die alles enthielten, was die Nomaden für das tägliche Leben benötigten. Dem Brauch entsprechend traten Tenzin und Longsela zunächst zu dem Tragaltar, verbeugten sich vor der kleinen, vergoldeten Statue Buddhas. Kleine Butterlampen brannten auch hier, und Longsela empfand dabei ein warmes, vertrautes Gefühl. Mochten die Khampa auch als Plünderer gefürchtet sein, hier zeigte sich, wie hoch sie die Religion in Ehren hielten. Im Zelt roch es nach rohem Leder, nach Wacholderzweigen und Moschusöl, nach alten Decken auch, die viel Staub aufgesaugt hatten. Aber noch ein anderer Geruch, süßlich und widerlich, machte die Luft stickig. Longsela erschrak, denn sie kannte diesen Geruch nach Krankheit und eiternder Wunde. Bisher hatte sie, geblendet von dem Feuer und den Butterlampen, kaum die dunkle Gestalt wahrgenommen, die mit gekreuzten Beinen auf dem »Khang« - der Bettpritsche - saß. Es war eine junge Frau, die ein Kind auf dem Schoß hielt. Ihr hüftlanges Haar, nach Nomadenart zu Buddhas Ehren in hundertundacht dünne Zöpfe geflochten und mit Silberamuletten behängt, rahmte die länglichen Wangen und den schmerzlich verzogenen Mund ein. Ihre Augen, von feuchten Glanzlichtern überzogen, schimmerten unter dichten Wimpern. Longsela hatte noch nie eine Frau gesehen, die so schön und so traurig war. Tiefes Mitleid erfüllte sie; in ihr wuchs das unwiderstehliche Bedürfnis, dieser Frau zu helfen, ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern. Als Tenzin sich über das Kind beugte, schlug die Frau behutsam die Decken auseinander. Der Kleine mochte vier Jahre alt sein, die Haut war gelblich verfärbt. Das Gift der Wunde, dachte Longsela.
    »Ich brauche mehr Licht«, sagte Tenzin zu seinem Gastgeber.
    Eine alte Frau, offenbar die Großmutter, brachte eine kleine
Öllampe. Der Kleine blinzelte, als das Licht auf sein Gesicht fiel, und drehte den Kopf zur Seite. Er trug nur seine Tschuba, die Beine waren nackt. Das gebrochene Knie war mit Stäbchen gerade gestreckt, der Verband aber bereits mit Blut und Eiter getränkt.
    »Was ist geschehen?«, fragte Tenzin die Mutter.
    Sie erzählte, dass ein starkes Gewitter heraufgezogen war. Der Junge lief mit einem Zicklein im Arm ins Lager zurück, als er in eine Felsspalte rutschte und so hart mit dem Kopf aufschlug, dass er die Besinnung verlor. Erst später, als sich das Gewitter entfernte, hörte man das verzweifelte Meckern des Zickleins.
    Und dann berichtete die Frau mit leiser, rauer Stimme: »Die Spalte war so eng und der Felsen so nass, dass nur ein schlanker junger Bursche hinabklettern konnte. Alos Bein lag ganz verdreht, und der Knochen war sichtbar. Wir haben einen heiligen Mönch aufgesucht, der Knochenbrüche bei Menschen und Tieren heilen konnte. Er hat die Wunde gewaschen, das verletzte Knie wieder in die richtige Stellung gebracht. Alo hat die Schmerzen tapfer ertragen, und ein paar Tage lang ging alles gut. Aber dann hat sich das Knie entzündet, und das Fieber hört nicht auf zu steigen.«
    Tenzin bat die alte Frau, das Licht niedriger zu halten. Er löste behutsam die Stäbchen, nahm den Verband ab. Auf Alos dickem, hartem Schenkel hatte sich ein feuerroter Streifen gebildet. Das Knie war fast auf seine doppelte Größe angeschwollen und schwärzlich verfärbt. Tenzin beugte sich tief über die Wunde und roch an der Entzündung.
    »Es ist höchste Zeit«, murmelte er dabei. »Ja, höchste Zeit.« Er

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