Das Haus der toten Mädchen
Calderwoods Grab lag in der obersten Reihe des Friedhofs unter einem Apfelbaum versteckt. Die Blumen waren frisch, der Stein war erst kürzlich von Algen, Moos und Vogeldreck gereinigt worden. Um Alice wurde noch getrauert, so wie um die anderen jungen Frauen getrauert worden war.
Er konnte nicht einschätzen, wie lange er dagestanden und den Stein angeschaut hatte, bevor er merkte, dass jemand neben ihn getreten war. Er blickte auf und guckte in die blauen Augen eines jener Menschen, die ihn in den Knast gebracht hatten. Doc Henley war wirklich der letzte Mensch, dem er hier begegnen wollte: Sein Blick wirkte zwar gütig, aber auch verdammt helle – immer noch. Früher oder später würde er Griffin wiedererkennen.
Vielleicht früher. „Dachte ich mir doch, dass Sie da sind, hier oben“, sagte er, freundlich wie immer. Er nickte zum Grabstein hinüber. „Traurig, nicht wahr? Haben Sie sie gekannt?“
„Ich bin nie zuvor in Vermont gewesen“, erwiderte Griffin automatisch, und Doc schien keine Ambitionen zu haben, das anzuzweifeln. Griffin hatte sich für den Fall, dass jemand ihn fragte, warum er die Friedhöfe abklapperte, schon eine Ausrede zurechtgelegt, und er lieferte sie Doc frei Haus. „Ich betreibe ein wenig Genealogie. Es gibt Gerüchte, denen zufolge ein Zweig meiner Familie aus dieser Ecke stammt, und ich dachte mir, wenn ich schon hier Urlaub mache, kann ich der Sache ja mal nachgehen.“
„Tatsächlich?“ Doc zog eine seiner buschigen Brauen hoch. Er war ebenso groß wie Griffin und kaum vom Alter gebeugt, so dass sich ihre Augen auf gleicher Höhe befanden. „Wie lautet der Nachname?“
„Smith.“
„Das macht die Sache etwas mühsam“, meinte Doc trocken. „Wir haben eine Menge Smiths in Colby.“
Griffin wandte sich ab. „Es ist nicht wichtig. Nur ein kleiner Zeitvertreib, wenn ich schon mal hier bin.“ Er warf einen Blick über die Schulter, auf das Grab. „Was ist mit ihr passiert? Sie war noch so jung, als sie starb. Ein Autounfall?“
„Sie ist ermordet worden“, antwortete Doc mit unverhohlenem Schmerz in der Stimme. „Sie und zwei ihrer Freundinnen. Es überrascht mich, dass Sie von den Colby-Morden noch nichts gehört haben. Die Leute hier reden noch immer viel darüber.“
„Ich habe hier bisher kaum Leute kennen gelernt.“
„Außer Sophie“, erwiderte Doc.
Griffin übte sich in Selbstbeherrschung. Er zuckte mit den Achseln. „Können Sie mir das verübeln? Sie ist verfügbar, sie ist hübsch, und ich langweile mich. Eine kleine Affäre tut sicher uns beiden gut. Sie ist zu zugeknöpft. Sie muss etwas lockerer werden.“
„Ich glaube nicht, dass sie einen Fremden braucht, der in ihr Leben platzt, es aus den Fugen bringt und dann wieder verschwindet“, entgegnete Doc. „Ich nehme an, es ist Ihnen mit ihr nicht sonderlich ernst?“
Griffin lachte. „Nein. Was sind Sie? Ihr Anstandsonkel?“
„Nur ein Freund“, sagte Doc. In seiner Stimme schwangen Empörung und Verständnis mit. „Sie ist eine großartige junge Person, fleißig, anständig, verantwortungsbewusst. Ich möchte nicht, dass sie all das wegwirft.“
„Mit mir zu schlafen heißt nicht, sein Leben wegzuwerfen. Das Leben kann hart sein“, erklärte Griffin. „Immerhin geht es ihr besser als diesem armen Ding.“ Er wies mit dem Kopf auf Alices Grab.
„Also war Sophie letzte Nacht bei Ihnen?“
Einen Augenblick lang überlegte Griffin, ob Doc mit seinem würdevollen, altmodischen Auftreten ihn gleich zu einem Duell herausfordern oder ihn zumindest mit einer Reitgerte versohlen würde. Er konterte mit einer Gegenfrage: „Was führt Sie zu der Annahme, sie habe die Nacht mit jemandem verbracht?“
„Marty hat sich Sorgen um sie gemacht. Sie hat mir erzählt, dass Sophie sie von Ihrem Haus aus angerufen hat und erst Stunden später zurückgekommen ist.“ Doc zögerte. „Ich möchte nicht, dass ihr jemand wehtut.“
„Ich finde, wenn Sie wissen wollen, mit wem Sophie schläft, sollten Sie sie selbst fragen“, befand Griffin.
Doc schaute ihn an. „Das wird nicht nötig sein, oder?“
Griffin zuckte mit den Schultern. Er hatte eigentlich nie einen Hehl aus seinem Sexualleben gemacht, aber Docs bohrende Fragen wurden allmählich unangenehm. Er wechselte das Thema. „Diese gelben Blumen sind schön. Haben Sie die schon mal gesehen?“
Doc versuchte nicht, das Gespräch wieder auf Sophie zu lenken. „Sie kommen hier nicht besonders häufig vor“, antwortete er abschätzig.
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