Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
auf einer Flüssigkeit.
»Diese Seen waren vermutlich noch nicht da, als Hester die Briefe geschrieben hat und die Feenfotos entstanden«, erklärte Mark. Er marschierte neben ihr her, die Hände in den Jackentaschen.
»Warum?«
»Das sind zum Großteil geflutete Kiesgruben. In der Gegend wird heute noch Kies abgebaut. War früher ein großes Geschäft hier.« Er schniefte. In der kalten Brise lief ihnen beiden die Nase. Seine Wangen waren vom Wind gerötet, seine Augen glänzten, und er wirkte gleich ein wenig lebendiger.
»Früher war die Landschaft wohl auch offener – weniger Wege und Felder und mehr freies Land und Feuchtwiesen?«, fragte sie.
Mark zuckte mit den Schultern. »Ja, das nehme ich an. Hier ist wieder der Fluss. Er fließt an einigen Stellen mit dem Kanal zusammen und zweigt dann wieder ab – den ganzen Weg von Newbury nach Reading. Manchmal sind Fluss und Kanal ein einziges Gewässer, dann wieder zwei getrennte. Und überall gibt es diese kleinen Nebenarme und Zuflüsse und Seen.«
»Es ist wohl nicht sehr wahrscheinlich, dass der Baum von dem Foto noch da ist …?«
»Eher unwahrscheinlich, würde ich sagen. Er sieht schon auf den Fotos alt aus, und die sind vor hundert Jahren entstanden. Na ja, wenn er nicht gefällt wurde, weil er bei irgendetwas im Weg stand, wird er irgendwann von allein umgestürzt sein.« Mark blieb stehen und betrachtete noch einmal die Fotografien. Im Studierzimmer seines Vaters hatten sie ein Original der Abhandlung gefunden, die sein Urgroßvater, Albert Canning, über die Fotos und die Umstände ihrer Entstehung verfasst hatte. Sie enthielt die beiden Fotos, die Leah im Internet gesehen hatte, und ein paar weitere, auf denen die dünne Gestalt noch undeutlicher war. »Also, solche Reihen hoher Bäume findet man hier überall am Kanal und an den Flussarmen.« Er blickte zu ihr auf und zuckte mit einer Schulter. »Wir können nicht wissen, ob es wirklich diese Bäume sind, aber die da drüben sehen sehr ähnlich aus, und vor diesem Flussabschnitt ist eine Senke, genau wie auf dem Foto. Wir können wirklich nur Vermutungen anstellen«, sagte er, gab Leah das Blatt zurück und betrachtete die Landschaft.
Leah studierte das Bild genau und schaute dann wieder hoch. Mark hatte recht – die Landschaft hier ähnelte der auf dem Bild mehr als an den anderen Stellen, die sie schon gesehen hatten. Die Sonne wirkte nach so vielen verregneten Tagen übernatürlich hell, und Leah beschirmte die Augen mit dem Blatt. Der Bach vor ihnen eilte klar und zielstrebig durch die abgegraste Wiese. Auf dem Grund lagen braune und orangerote Kieselsteinchen, graue und weiße Steinsplitter und längliche Klümpchen grüner Algen, die sich in der Strömung leicht bewegten. Das kurze Gras war mit Schaf- und Kaninchenkötteln übersät, die nächste Hecke von Gän gen und Löchern durchsetzt. Plötzlich war Frühling, als hätte Leah nur Sonnenschein gebraucht, um ihn wiederzuerkennen: Löwenzahn mit fetten gelben Mähnen, winzige weiße Gänseblümchen, mit denen sie Kindheitserinnerungen verband, kleine violette Blumen mit haarigen Blättern, deren Namen sie nicht kannte. Sie ging in die Hocke, hob einen Zweig vom Boden auf, warf ihn in den Bach und sah zu, wie er davongetragen wurde. Am anderen Ufer ergriff ein aufgeschreckter Fasan mit ulkigen, hektischen Schritten die Flucht. Leah schaute ihm nach und atmete tief durch. Die Brise war feucht und kühl und roch nach mineralreicher Erde und weichem Regenwasser. Doch die Sonne auf ihrem Kopf hatte schon Kraft – sie spendete wunderbare, wohlige Wärme, die Leah seit dem letzten September nicht mehr gespürt hatte. Sie versuchte sich die leuchtende Szenerie, die vor ihr lag, im unheimlichen Licht dieses Fotos vorzustellen. Hatte der Fotograf irgendeine Art Filter benutzt? Die Aufnahme erschien ihr nicht direkt neblig, aber da war ein fremdartiges, bleiches Leuchten, das alle Umrisse ein wenig weicher zeichnete, gerade undeutlich genug, um Zweifeln die Tür zu öffnen. Zweifeln, oder auch Glauben. Leah sog noch einmal genüsslich die frische Luft ein, so viel ihre Lunge fassen konnte.
»Ah! Es ist herrlich, endlich blauen Himmel zu sehen, nicht?«, rief sie aus, richtete sich wieder auf und wischte sich die Hände an den Jeans ab. Sie wandte sich Mark zu und bemerkte, dass er sie mit einem eigenartig intensiven Blick aus großen Augen beobachtete. »Was ist los?«
»Nichts«, entgegnete er. Er schüttelte den Kopf, und schon war der
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