Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
seltsame Ausdruck wieder dem bekümmerten, finsteren Blick gewichen. »Ich bin als Kind oft hierhergekommen und habe mit meinem Cousin und meiner Cousine gespielt. Im Sommer sind wir schwimmen gegangen – nicht hier, sondern ein Stück weiter. Da macht der Fluss eine große Kurve, und das Wasser fließt viel langsamer. Es war eiskalt.« Er schauderte bei der Erinnerung. »Eiskalt, immer. Ich musste natürlich trotzdem rein. Konnte doch nicht als Einziger draußen bleiben.« Leah schob die Hände in die hinteren Hosentaschen, drehte sich einmal um die eigene Achse und musterte die Umgebung. »Was willst du jetzt tun?«, fragte Mark. Er klang aufrichtig interessiert, aber gleichzeitig ein wenig schicksalsergeben, als stünde er ganz und gar zu ihrer Verfügung. Sie blickte zu ihm hinüber, nur ganz kurz irritiert durch die plötzliche vertraute Anrede, kniff im hellen Sonnenschein die Augen zusammen und begriff, dass er selbst offensichtlich nichts zu tun hatte. Dann war es wohl kein Wunder, dass er seinen Stimmungen und Erinnerungen so hilflos ausgeliefert war.
»Ich weiß nicht«, gestand sie. Immerhin, musste sie sich eingestehen, hatten diese Feenfotos womöglich gar nichts mit dem Kummer zu tun, von dem Hester Canning geschrieben hatte. »Gehen wir noch ein Stückchen weiter – es regnet nicht, das sollten wir ausnutzen. Und dann würde ich mir gern die Bücher im Arbeitszimmer näher anschauen, wenn du nichts dagegen hast? Vielleicht finde ich dort etwas über Theosophie oder diesen Robin Durrant.«
»Klar.« Mark nickte. »Der Weg führt weiter bis zur Ecke dieser Wiese da.« Er wandte sich in die angegebene Richtung. Die Säume seiner Jeans waren dunkel und vollgesogen mit Wasser von dem hohen, nassen Gras. Als er den matschigen Pfad erreichte, blieb er stehen, sah zu, wie sie auf ihn zu stapfte und wartete, bis sie bei ihm war, ehe er weiterging wie ein schweigsamer Fremdenführer.
Später wandte Leah sich wieder dem Studierzimmer im alten Pfarrhaus zu und nahm sich die Bücherregale vor. Sie fand alte Werke über Theosophie mit gesprungenen, verblassten Rücken und rissigen Einbänden, ein dünnes Buch über Feen-Fotografie und ansonsten kaum etwas, das mit der Geschichte in Zusammenhang stand: lange Reihen von Reader’s Digest -Ausgaben, eine gewaltige Enzyklopädie, tonnenweise alte Romane, vor allem historische Liebesromane, auf deren Cover unweigerlich eine Heldin mit schwellendem Busen im tief ausgeschnittenen Mieder abgebildet war. Leah kramte und blätterte und hatte irgendwie das Gefühl voranzukommen, obwohl das wahrscheinlich gar nicht stimm te. Sie widerstand dem Drang, auch in die Schubladen des Schreibtischs von Marks Vater zu schauen, einem Ungetüm mit lederbezogener Tischplatte, das auf der Galerie eines Zwischengeschosses im Schatten kauerte wie eine schlafende Bestie. Die Unterlagen auf dem Tisch stupste sie allerdings mit den Fingerspitzen auseinander – Kontoauszüge und Stromrechnungen, abgerissene Kalenderblätter von vor zwei Jahren und Listen, deren einzelne Punkte nicht nur durchgestrichen, sondern so gründlich überkritzelt worden waren, dass sie kein einziges Wort mehr lesen konnte.
Als die Sonne unterging, brachte Mark ihr eine Tasse Tee. Er schaltete im Vorbeigehen das Licht an, und sie fuhr leicht zusammen. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Düsternis sich bereits wie Wasser in den Ecken des Raumes angesammelt hatte.
»Danke«, sagte sie, als er die Tasse vorsichtig auf einen Stapel alter Zeitungen stellte, neben dem sie in einem Clubsessel saß. An den Armlehnen war das Leder durchgewetzt, und sie hatte beim Lesen geistesabwesend an der freigelegten Polsterung herumgespielt und Krümel aus der Füllung gezupft. Sie lagen auf ihren Knien und auf dem Boden um ihre Füße. »O Gott, Entschuldigung! Ich habe gar nicht gemerkt, was ich da tue!«, rief sie aus und fegte sich hastig die Beweisstücke von der Hose. Mark lächelte flüchtig.
»Mach dir keine Gedanken. Wirklich nicht.« Er ließ den Blick durch den Raum gleiten, über die staubigen Volants der Vorhänge und die vollgestopften Bücherregale hinweg. »Manchmal sieht man erst durch die Augen eines Unbetei ligten, was man schon die ganze Zeit vor der Nase hat«, sagte er halb zu sich selbst. »Das ganze Haus ist so heruntergekommen wie dieser verdammte Sessel. Alles muss weg. Mitsamt dem Haus.«
»Aber es gehört seit Generationen deiner Familie …«, wandte Leah sanft ein. »Manche Dinge sind es wert, dass man
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