Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
die andere Schulter. Da stehen sie also, Hester und Robin, zu beiden Seiten des Pfarrers. Der sitzt an seinem Schreibtisch, und vor ihm ausgebreitet liegen die Aufnahmen, die Robin just an diesem Morgen gemacht hat. Sie riechen noch ein wenig nach den Chemikalien, in denen sie entwickelt wurden. Nach ein paar Augenblicken entzieht Robin Albert sanft seine Finger, doch der Pfarrer ergreift stattdessen nicht etwa Hesters Hand. Am liebsten hätte sie ihn gezwickt oder sich schwer auf ihn gestützt, um sich bemerkbar zu machen.
Also streckt sie die freie Hand aus und hebt einen der Abzüge auf. »Vorsichtig, Hetty«, sagt Albert mahnend. »Fin gerabdrücke und dergleichen können Fotografien leicht be schädigen.«
»Ich werde sie nicht beschädigen, mein Lieber«, entgegnet Hester. Sie untersucht die Fotografie so genau, wie ihre Augen es nur erlauben. Die seltsame, androgyne Gestalt, in fließendes Weiß gehüllt und mit dem üppigen Haar, das hinter ihr durch die Luft wallt. Auf den meisten Aufnahmen ist sie nur ein verschwommener Fleck, an dem man unmöglich irgendwelche Züge ausmachen kann, und jegliche Form verliert sich in dem Stoff, der sie umspielt. Doch auf zwei oder drei Bildern ist deutlich eine menschenähnliche Gestalt zu erkennen, die zarten Glieder im Sprung ausgestreckt. »Und, sieht sie so aus wie die Feen, die du gesehen hast, Bertie? Die du mir beschrieben hast?«
»Ja«, sagt Albert, doch er klingt nicht ganz sicher. »Allerdings scheint mir diese hier mehr Form angenommen zu haben, und sie ist größer.«
»Aber natürlich«, wirft Robin rasch ein. »Deinen Beschreibungen nach, Albert, nehme ich an, dass du etwas geringere Geschöpfe gesehen hast als dieses hier – vielleicht Elementarwesen, die mit irgendeiner Wildblume oder sonst einem Kraut auf dieser Wiese verbunden sind. Ich habe genau solche Wesen selbst schon in den Auen hier gesehen, und sie sind tatsächlich kleiner und von weniger ausgebildeter Gestalt. Dieses hier halte ich für den Hüter der alten Trauerweide.«
»Eine Dryade?«, fragt Albert.
»So hätte man sie im Altertum bezeichnet, ja. Wie der Baum, den es hegt und nährt, so ist auch dieses Elementarwesen größer und höher entwickelt. Ich habe mich bemüht, mit ihm in Dialog zu treten, doch es war mir gegenüber misstrauisch. Das war möglicherweise nur klug von ihm, obgleich ich mein Allerbestes getan habe, nur Schwingungen der Liebe und des Willkommens auszusenden.«
»Vielleicht war das unhöflich«, sagt Hester, ehe sie sich bremsen kann. Robin wirft ihr einen Blick zu. »Nun ja, ich meine, wenn es schon seit vielen Jahren mit diesem Baum auf der Wiese lebt, hätten Sie als der Besucher es vielleicht nicht in seinem eigenen Zuhause willkommen heißen sollen«, erklärt sie. Robin lächelt nachsichtig.
»Also, Hetty, du bist wirklich schwer von Begriff. Robin bezieht sich doch nur auf seine emotionalen Schwingungen im Allgemeinen. Da gibt es keine gesellschaftliche Etikette zu wahren«, sagt Albert.
»Nun, ich …«, entgegnet Hester ein wenig erschrocken. »Ich wollte damit gewiss nicht andeuten …«
»Nicht doch, Mrs. Canning, ist schon gut. Ich verstehe, was Sie damit meinten. Natürlich muss man sehr achtsam und rücksichtsvoll mit Wesen umgehen, die so rein und feinsinnig sind wie dieses«, erklärt Robin wohlwollend.
»Sieh nur – sieh dir dieses Bild an. Das Gesicht ist beinahe zu erkennen. Und bezaubernd – ganz bezaubernd …« Albert hält dem Theosophen eine bestimmte Fotografie hin. Dieser nimmt sie und betrachtet sie genau, mit gedankenverloren wirkendem Blick.
»Bezaubernd, in der Tat«, murmelt er.
»Robin – wir müssen diese Aufnahmen sofort veröffentlichen! Die ganze Welt muss sie sehen! Ich werde selbst mit den Zeitungen telefonieren – gibt es eine bestimmte Zeitung, der du sie zuerst geben möchtest? Kann man weitere Abzüge davon herstellen?«
»Natürlich, natürlich. Wir machen alles so, wie du sagst, Albert«, beruhigt Robin den vor Erregung zitternden Pfarrer.
»Nun, meine Herren, ich überlasse Sie jetzt Ihrem … bedeutenden Werk. Amy muss die Kinder inzwischen fertig angekleidet haben, und wir haben ihnen versprochen, einen Ausflug nach Thatcham zu machen und Süßigkeiten zu kau fen«, verkündet Hester fröhlich. Doch falls sie gehofft hatte, mit ihrem Aufbruch etwas Aufmerksamkeit zu erregen, so wird sie enttäuscht.
»Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll«, gesteht Hester ihrer Schwester, während sie
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