Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
wird, was Cat damit meint. »Du meinst, du hast einen Liebsten?«, fragt sie. Cat antwortet nicht, doch ein warmer Funken schimmert in ihren Augen auf. »Ich verstehe«, sagt Hester leise. War es das, was sie draußen auf dem Hof beobachtet hat? Einen kleinen Streit zwischen Liebenden? Sie schaut aus dem Fenster auf den verwischten grünen Streifen ferner Bäume. Die Vögel singen, wie sie es immer tun. Die Luft ist klar und trocken, doch auf einmal fühlt sich das Haus weit entfernt an, abgelegen. Oder vielleicht ist sie es, Hester, die weit weg ist. Ohne Verbindung zu den Dingen, die sie zu kennen glaubt. »Aber …« Schwach sucht sie nach irgendeiner harmlosen Antwort auf all das. »Aber du warst nicht dort, um zu wetten? Gestern Nacht?«
»Nein, Madam. Ich war nicht dort, um zu wetten.« Schweigen senkt sich über den Raum, und der Staub, den wirbelnde Betttücher hochgeweht haben, lässt sich langsam, ein funkelndes Stäubchen nach dem anderen, auf den polierten Oberflächen der Möbel nieder. Hester faltet die Hände vor sich und blickt eine Weile darauf hinab. Sie kann Cat atmen hören, schnell, flach und leise wie ein in die Ecke getriebenes Tier, bereit zum verzweifelten Kampf. »Soll ich also meine Sachen packen?«, fragt Cat schließlich. Hester schüttelt den Kopf.
»Ich muss mit meinem Mann darüber sprechen. Ich glaube, dass du im Grunde ein guter Mensch bist, Cat. Das glaube ich wirklich. Wenn du hierbleiben willst, musst du mir versprechen, dass diese Ausflüge in den Ort aufhören werden. Vielleicht könntest du mit deinem … Bekannten am Sonntagnachmittag spazieren gehen, wenn du freihast. Aber du darfst nicht mehr in die Wirtschaften im Ort gehen, und du darfst dich nicht nachts aus dem Haus schleichen. Kann ich meinem Mann dein Wort darauf geben?«, fragt Hester mit zitternder Stimme. Der harte Ausdruck in Cats Augen wird ein wenig weicher, und ihre Lippen pressen sich zu einem schmalen, unglücklichen Strich zusammen, doch letzt lich klingt ihre Antwort entschlossen.
»Nein, Madam. Das kann ich Ihnen nicht versprechen.«
Hester hält am oberen Treppenabsatz kurz inne, ehe sie wieder zu Albert hinuntergeht. Sie stützt sich mit einer Hand am Geländer ab und sieht, dass diese Hand zittert. Auf einmal ist in ihrem Leben nichts mehr so einfach, wie es ihr einst erschienen war, ist diese Welt zu einem Ort geworden, an dem sie so vieles nicht mehr begreift. Und sie weiß, dass sie hell empört sein sollte über Cats Eingeständnis, doch aus irgendeinem Grund ist sie das nicht. Sie ist schockiert und besorgt und … doch wohl nicht neidisch ? Konnte der Kloß in ihrer Kehle von ihrer Sehnsucht danach rühren, sich in Alberts Arme zu stürzen? Nein, sie ist nicht empört. Sie hat Angst. Schluckend steigt sie die erste Stufe hinab und erkennt, dass sie aus einem bestimmten Grund innegehalten hat. Sie brauchte Zeit, sich Argumente einfallen zu lassen, eine Möglichkeit, wie sie Albert davon überzeugen kann, Cat zu behalten. Denn auf einmal ist die Vorstellung, dass ihr Dienstmädchen fortgehen könnte, dass sich eine weitere vertraute Sache in ihrem Leben verändert, sie ein weiteres Mal versagt hat, einfach mehr, als sie ertragen kann.
Doch nichts, was sie sagt, vermag ihren Mann umzustimmen. Trotz Cats Weigerung verspricht sie ihm, dass das Mädchen nie wieder nachts aus dem Haus gehen wird. Sie lügt und behauptet, sie hätte Cats Wort darauf. Das Fahrrad erwähnt sie mit keinem Wort, und ebenso wenig Cats Verehrer. Sie schwört ihm, dass Cat sich an keinerlei Glücksspiel beteiligt hat, weder in der vorigen Nacht noch sonst irgendwann, dass sie nur ein wenig Freiheit von den Fesseln ihrer Stellung genießen und ihre neue Umgebung erkunden wollte. Damit müsse man bei einem so jungen Menschen rechnen, der obendrein in seinem kurzen Leben schon so viel Schlimmes durchgemacht habe. Sie führt sogar an, dass sie es sich nicht leisten könnten, Cat zu entlassen, da ein weniger schwieriges Mädchen einen höheren Lohn verlangen würde. Doch der Pfarrer bleibt ebenso beharrlich wie Cat. Er scheint ihr kaum zuzuhören, sondern sitzt mit undurchdringlicher Miene da, die Hände schlaff im Schoß, während sie redet und redet und dasselbe Argument in drei verschie denen Varianten ausführt. Als sie fertig ist und flehentlich seine Hand ergreift, tätschelt er nur geistesabwesend die ihre.
»Du bist eine gute und mildtätige Seele, Hester. Aber sie muss gehen. Auf der Stelle. Sie ist eine Verderbnis in
Weitere Kostenlose Bücher