Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
Er darf sie auf keinen Fall sehen. Sie versucht aufzustehen – zu früh, eine Woge des Schwindels drückt sie wieder auf den staubigen Boden nieder. Der Pfarrer geht langsam weiter, mit kleinen Schritten wie ein Kind. Er hält ein vergoldetes Kreuz in die Höhe, das mindestens dreißig Zentimeter groß sein muss und ebenso glitzert wie seine Augen. Das Kreuz schwenkend, schiebt er sich langsam auf zwei Polizisten zu, die gerade einen Mann zu Boden ringen. Der wehrt sich nach Leibeskräften.
»Lasst mich los, ihr Schweine! Ich habe doch nur ein Bier getrunken!«, schreit der Mann heiser.
»Was macht dann dieser Wettschein in deiner Tasche, Keith Berringer? Und wie kommt es, dass du volle zwei Wochenlöhne in der Tasche hast?«, fragt einer der Polizisten. »Die hast du wohl für schlechte Zeiten zurückgelegt, was?«, fügt er hinzu, und sein Kollege lacht. Kräftiger Regen setzt ein und verwandelt den Staub in Matsch.
»Bereue, mein Sohn! Wirf deine Verderbtheit ab wie eine alte Haut! Du sollst neu geboren werden in Jesu Liebe und Gottesfurcht!«, fleht der Pfarrer und bleibt in ratsamem Abstand zu dem kämpfenden Mann stehen.
»Herrgott! Ihr hättet nicht auch noch die Kirche mitbringen müssen! Habe ich denn nicht schon genug Ärger?«, beklagt Keith Berringer sich verbittert.
»Tja, das war nicht unsere Idee«, brummt einer der Polizisten verächtlich, während Albert strahlend und keuchend vor den drei Männern steht. Obwohl Cat immer noch hustet, stemmt sie sich auf die Knie. Sie weiß, dass es klüger wäre, das Gesicht abzuwenden, doch sie kann den Blick nicht von dem Pfarrer losreißen. Sollte er nach unten blicken, nur ein wenig nach rechts, dann würde er sie sehen. Ihr Puls pocht in den Schläfen. Sie hockt auf allen vieren da wie ein Tier, ihre Finger versinken im vom Regen aufgeweichten Straßenstaub. Er klebt an ihren Kleidern. Sie beißt die Zähne zusammen, kann aber einen weiteren Hustenanfall nicht unterdrücken. Die Krämpfe in ihrer Brust sind qualvoll, und sie lässt den Kopf bis fast auf den Boden sinken. Eine Sekunde lang weicht der Lärm um sie zurück – das Trillern der Pfeifen, Schreie und trampelnde Schritte, knallende Türen, die dröhnende Stimme des Pfarrers und das Gelächter der Polizisten. Alles verliert sich hinter einem rauschenden, dumpfen Pochen in ihren Ohren. Schatten schieben sich vor ihre Augen, in denen kleine Lichtpunkte tanzen. Nicht ohnmächtig werden!, befielt sie sich. Sie darf auf keinen Fall verhaftet, ja nicht einmal entdeckt werden. Niemand soll sie hilflos im Matsch liegen sehen.
Allmählich dringt wieder etwas Luft in ihre Lunge, das Atmen fällt ihr leichter, ihr Kopf wird klar, und sie hört wieder lebhaft und deutlich, was um sie herum geschieht. Sie rappelt sich auf und blickt nach rechts. Der Pfarrer ist auf der Suche nach einem neuen Zielobjekt. Die Polizisten machen sich mit Keith Berringer davon, der anscheinend lieber mit ihnen geht, als sich noch länger Predigten anzuhören.
»Der Weg zur Gerechtigkeit heißt Reinheit und Keuschheit, heißt Reinlichkeit und Ehrlichkeit«, erklärt der Pfarrer den Gestalten, die nach allen Seiten fliehen, und fuchtelt dabei mit seinem Kreuz nach ihnen, als könnte er sie heilen, indem er sie nur einen Blick darauf werfen lässt. Lauf, schnell, feuert Cat sich selbst an. Doch es ist zu spät. In dem Moment, als sie sich erhoben hat, ist sie in sein Blickfeld geraten, und er fährt zu ihr herum und stürzt auf sie zu. »Du da! Junge Frau! Du hast hier nichts verloren! Frauen sind zu Sanftheit und Demut geschaffen, als Gefäße der Ehre Gottes und der Unterwerfung unter sein Gesetz …« Seine Stimme erlahmt. Ihre Blicke begegnen sich. Eine Sekunde lang hofft sie noch, dass er sie nicht erkennen wird. Viele Männer würden ihre eigenen Dienstboten nicht erkennen, wenn sie ihnen ohne Uniform begegneten, außerhalb des Hauses, und schon gar nicht im Dunkeln und mit Matsch beschmiert. Doch er runzelt die Stirn, versucht sie einzuordnen, und in der Sekunde, ehe Cat die Flucht ergreift, sieht sie ihm an, dass er sie erkannt hat. Seine Augen weiten sich in ungläubigem Schock.
10
Hester wacht in der Nacht kurz auf, streckt die Hand aus und findet Alberts Seite des Bettes leer. Sie meint, es müsse gegen Morgen sein, und schläft wieder ein, niedergedrückt von einem Schleier vager Hoffnungslosigkeit. Sie fühlt sich apathisch, als hätte es wenig Sinn, überhaupt aufzuwachen. Doch als der Morgen kommt und aufdringliche
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