Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
gebraucht habe«, erklärte Leah aufrichtig.
Sie blieben eine Weile schweigend in der Nähe ihrer geparkten Autos stehen. Mark runzelte nachdenklich die Stirn.
»Angeblich soll der Prozess ja der gleiche sein, wie wenn man trauert. Die Trennung von einem langjährigen Partner, meine ich. Man macht wohl dieselben Phasen durch: erst Schock, Nichtwahrhabenwollen, dann Wut, Depression, am Ende schließlich Akzeptanz …«
»Wirklich? Ich weiß nicht. Wenn jemand gestorben ist, kann er schließlich nicht ein halbes Jahr später wieder in deinem Leben auftauchen und dich aus dieser geordneten Bahn werfen.« Sie schüttelte den Kopf.
»Das stimmt. Es ist wohl besser, man sieht den Expartner nicht wieder, ehe man diesen Prozess durchgemacht hat und am anderen Ende wieder herausgekommen ist«, merkte er vorsichtig an.
»Jetzt klingst du wie Sam. Meine beste Freundin«, entgegnete Leah. Sie starrte ein paar Sekunden lang die Straße entlang und beobachtete mit zusammengekniffenen Augen die Autos, die sich ungeduldig vorbeischoben. »Aber so ist wohl das Leben.« Sie zuckte resigniert mit den Schultern.
»Entschuldigung. Das geht mich gar nichts an.« Mark wandte den Blick ab und zog den Autoschlüssel aus der Jackentasche.
»Ist schon gut«, sagte Leah. Nun wechselte sie doch das Thema. »Mark, noch mal zu dem, was dein Vater gesagt hat – glaubst du, es hat im Pfarrhaus tatsächlich einen Mord gegeben?«
Er zog die Augenbrauen hoch. In der Sonne wirkten seine grauen Augen sehr hell, so glänzend und hart wie polierter Granit. »Ich habe jedenfalls nie etwas davon gehört.«
»Aber er hat doch gesagt, dass es ein großes Familiengeheimnis war.«
»Er erzählt inzwischen viele schräge Geschichten.«
»Ja, aber was, wenn es doch stimmt? Das wäre schlimm genug gewesen, um Hester zu diesen Briefen zu veranlassen, oder? Sie erwähnt doch immer wieder Schuld und ein Verbrechen und dass ihr Schweigen sie zur Komplizin macht, richtig? Und dass sie irgendetwas in der Bibliothek gefunden hätte?«
»Schlimm genug wäre es auf jeden Fall gewesen. Aber es kann genauso gut sein, dass Dad sich an irgendeine alte Folge von Inspector Morse erinnert hat …«
»Das glaube ich nicht. Er wirkte auf mich irgendwie sehr überzeugt. Aufgeregt wie ein Kind, das Erwachsene heimlich bei einem Gespräch belauscht hat.«
»Und, was glaubst du, wer ermordet wurde?«
»Ich habe keine Ahnung. Aber ich werde es herausfinden.«
»Wollen wir noch ein Stück spazieren gehen? Mir ist nach frischer Luft«, schlug er vor.
Sie gingen in südlicher Richtung den Broadway entlang, über den Bahnübergang am Bahnhof und hinunter auf den alten Treidelpfad neben dem Kanal, wo das trübe grüne Wasser lautlos an ihnen vorbeiglitt. Auf dem Pfad waren Radfahrer und Jogger, Spaziergänger mit Hund und junge Mütter unterwegs. In stillschweigender Übereinkunft wandten sie sich gen Osten, in Richtung Cold Ash Holt. Die Sonne bleichte den aquarellzarten Himmel und tränkte die Landschaft mit einer plötzlichen Wärme, die schwere Feuchtigkeit aufsteigen ließ. Leah zog ihren Pullover aus und knotete ihn sich um die Taille, doch Mark nahm ihn ihr ab und warf ihn sich über die Schulter.
»So ruinierst du ihn. Die Ärmel leiern aus«, erklärte er gedankenverloren.
»Tut mir leid«, entgegnete Leah belustigt. In der Nähe des Ortes waren ein paar Kanalboote vertäut, doch die ließen sie bald hinter sich und spazierten wie zwischen Mauern aus hoher Vegetation dahin: Bäume am Nordufer und Wiesen voll dürrer brauner Halme, so hoch wie ihre Schultern, im Süden. Gelbe Blütenkätzchen wanden sich in der Brise, und jeder einzelne Zweig endete in einer wächsern glänzenden Knospe. Die Rosskastanien blühten schon beinahe – wie hohe Kerzen ragten die frischen grünen Stängel auf, an denen die weißen Blütenblätter noch zusammengerollt zauderten. Der leichte Wind strich in westlicher Richtung über das Wasser, sodass Leah das Gefühl hatte, sie bewegten sich schneller, als sie tatsächlich gingen.
Nach etwa anderthalb Kilometern bogen sie auf einen Feldweg nach Süden ein, in der Nähe des Dorfes, wo der Fluss in ordentliche Verbindungskanäle zwischen den Baggerseen abgezweigt worden war. Sie beobachteten die Wasservögel und kniffen die Augen gegen die Sonnenstrahlen zusammen, die von der Oberfläche gespiegelt wurde. Hier war außer ihnen weit und breit niemand zu sehen, kein Lärm zu hören.
»Es ist seltsam, sich vorzustellen, wie sehr sich das
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