Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
finde, so kann man das nicht betrachten. Außer, man glaubt an Karma. Und das tue ich nicht«, fügte Leah nachdrücklich hinzu. Mark nickte langsam und mit so betrübter Miene, dass Leah vor plötzlichem Mitgefühl das Herz wehtat. Sie berührte kurz seine Hand und strich mit dem Daumen über seine Fingerknöchel. »Komm. Machen wir uns auf die Suche nach Fotos.«
Sie spazierten zu ihren Autos in Thatcham zurück und fuhren zum alten Pfarrhaus, wo sie sich erst einmal Kaffee kochten. Dann begannen sie, das Haus nach Familienfotos zu durchsuchen. Leah dachte zuerst an die Kisten auf den Dachböden, doch nach einer erfolglosen Stunde hatte sie nur einen winzigen Bruchteil davon durchgeschaut, und Nase und Augen trieften. Sie gab es auf und ging nach unten. Ihre Jeans waren voller Staub, ihre Hände schmuddelig. In der Bibliothek durchwühlten sie ungeniert die vielen Schubladen des gewaltigen Schreibtischs, aber auch das ohne Erfolg.
»Hier ist etwas«, sagte Mark und stieg die wackelige Leiter herunter. Die lehnte oben an einer Reling, die sich um den ganzen Raum herumzog und Zugang zu den höchsten Regalen bot.
»Was hast du gefunden?«
»Nichts Aufregendes – das ist Thomas, mein Großvater, als junger Mann.« Mark reichte ihr das staubige Foto in einem zerfallenden Lederrahmen, und Leah griff begierig danach.
»Das ist also Hesters Sohn. Der Junge, von dem sie in den Briefen erzählt«, sagte sie, wischte den Staub vom Glas des Rahmens und betrachtete das Bild genau: Ein robust wirkendes, längliches Gesicht mit mittelbraunem Haar, streng aus der Stirn gekämmt, tief liegenden braunen Augen und der Spur eines Lächelns. Seine Haut war vollkommen glatt, ohne jede Falte. »Ein gut aussehender Mann«, bemerkte sie. »Glaubst du, dass er Hester ähnlich sah?«
»Ich habe leider keine Ahnung. Ich kann mich ehrlich nicht daran erinnern, wie meine Urgroßeltern auf den Fotos aussahen«, erklärte Mark achselzuckend.
»Aber das ist immerhin etwas. Dürfte ich das Bild einscannen? Ich würde es gern in den Artikel aufnehmen, vor allem, weil sie Thomas in beiden Briefen erwähnt.«
»Natürlich, gern.«
Als der Himmel draußen sich verfinsterte, gaben sie in stillschweigender Übereinkunft die Suche auf und machten es sich in zwei Sesseln gemütlich, um zu lesen. Leah ging das Traktat des Pfarrers ein zweites Mal durch. Die Wortwahl war blumig, die Lobpreisung enthusiastisch, um es vorsichtig auszudrücken. Die Verzückung des Pfarrers über diese Elementare, wie er sie bezeichnete, strahlte ihr von jeder Seite entgegen, ebenso wie seine glühende Bewunderung für Robin Durrant, den »bedeutenden und hoch gelehrten Theosophen«, der diese Wesen der Welt enthüllt hatte. Er schrieb, als sei ihm eine Schar strahlender Engel erschienen statt einer Handvoll undeutlicher Fotografien von einem Mädchen in einem weißen Kleid. Leah betrachtete den angeblichen Elementargeist noch einmal ganz genau und versuchte, in dem körnigen, unscharfen Gesicht irgendwelche Züge zu erkennen. Je länger sie darauf starrte, desto sicherer meinte sie, auf einem davon einen dünnen, schwarzen Strich am Rand der Stirn dieser Gestalt zu erkennen.
»Das ist eine Perücke!«, verkündete sie und blickte auf, um Mark zu zeigen, was sie entdeckt hatte. Er schlief tief und fest. Sein Kopf war seitlich an die Lehne des Ohrensessels gesunken, der Mund fest geschlossen, die Brauen streng herabgezogen. Leah betrachtete ihn eine Weile und bemerkte ein wenig Grau an den Schläfen und in den Bartstoppeln an seinem Kiefer, die ausgemergelt wirkenden Schatten unter seinen Wangenknochen, eine leichte Kinnspalte. Er hatte die knochigen Knie angezogen und die Arme darum geschlungen wie ein Kind in einem Versteck. Seine Strümpfe hatten Löcher an den Zehen. Sein Atem ging langsam und tief und so gleichmäßig wie Leahs eigener Herzschlag. Es war irgendwie zutiefst beruhigend und sehr befriedigend, ihn beim Schlafen zu betrachten. Leah lächelte in sich hinein, schrieb eine kurze Nachricht und hinterließ sie auf der Armlehne seines Sessels. Bin zum Abendessen wieder da – keine Omelettes bitte, herzlichen Dank. Dann stand sie rasch auf und verließ das Haus.
Der Abend war frisch und klar, und nach Sonnenuntergang färbte sich der Himmel zart türkisblau, mit einem winzigen, hoch stehenden silbrigen Mond. Trotz der Kälte war die Luft weich und von einem grünen Duft erfüllt, der langsam aus den grauen und braunen Gerüchen des Winters aufstieg. Leah
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