Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
ging zu Fuß zum alten Pfarrhaus, nachdem sie sich auf einer Landkarte angesehen hatte, welchen Feldweg sie vom Treidelpfad aus einschlagen musste. Ihre Stiefel waren vom Tau durchnässt, und der Strahl ihrer Taschenlampe wanderte vor ihr her über den Boden. Das Haus, das allein an der Landstraße am Dorfausgang stand, war aus der Ferne gut zu erkennen, weil drinnen Licht brannte. Sie hielt inne, ein wenig atemlos nach dem zügigen Spaziergang. Hatte Hester Canning es je so gesehen? Oder Robin Durrant? Wahrscheinlich nicht. Vermutlich war es damals nicht üblich gewesen, nach Anbruch der Dunkelheit über die Wiesen zu streifen, jedenfalls nicht für die Ehefrau eines Pfarrers oder dessen Hausgast. Dennoch blieb Leah eine Weile stehen und betrachtete die Szenerie, und es fiel ihr nicht schwer, sich in alte Zeiten zurückzuversetzen: Wenn die Haustür aufginge, wäre das Haus drinnen warm und voller Leben, sauber und freundlich. Vielleicht spielte jemand Klavier, Stimmen drangen aus dem Wohnzimmer, Lachen schwebte wie ein fröhliches Gespenst die Treppe von der Küche herauf. Leah riss sich aus diesem Traum. So war Hester Canning das Haus zuletzt nicht erschienen. Sie hatte von seinen Schatten und Geheimnissen berichtet. Sie hatte über dieses Haus geschrieben, als sei es ihr Gefängnis, als fürchtete sie sich davor – vor etwas darin. Leah erschauerte und legte das letzte Stück Weges so rasch zurück, wie sie im Dunkeln sicher gehen konnte.
Mark öffnete die Tür mit der notwendigen Gewalt, und ein Schwall Küchendüfte umwehte ihn.
»Ich muss endlich eine Glühbirne in diese Fassung schrauben«, begrüßte er sie.
»Irgendetwas riecht hier sehr lecker. Jedenfalls nicht nach verbranntem Omelette«, bemerkte Leah.
»Ich verrate dir ein Geheimnis – in Wahrheit bin ich ein verdammt guter Koch. Ich habe mich da nur … nicht richtig bemüht.«
»Das habe ich mir beinahe gedacht.« Leah lächelte.
»Also, ich muss zugeben, dass deine Selbsteinladung zum Abendessen mich nach diesem Debakel ein bisschen überrascht hat.«
»Entschuldige. Das war wirklich unhöflich von mir. Aber dafür habe ich Wein mitgebracht.« Sie gingen in die Küche. Die Kochplatten waren vom Ofen entfernt, in der Ecke surrte ein Heizlüfter, und der Raum war warm und beinahe gemütlich. Mark hatte ein paar Kerzen angezündet und in der Küche verteilt.
»Die sorgen für Wärme und ein bisschen Atmosphäre«, erklärte er ein wenig verlegen. »Bloß gut, dass ich so eingeheizt habe – du siehst halb erfroren aus.«
»Ich bin zu Fuß hergekommen«, sagte Leah und legte mehrere Schichten Kleidung ab.
»Tatsächlich? Warum?«
»Mir war einfach danach. Der direkte Weg ist viel kürzer, fast Luftlinie. Außerdem wollte ich auch was von dem Wein trinken dürfen«, erklärte sie.
Mark nahm die Flasche und betrachtete das Etikett. »O nein – du bist offensichtlich kein Weinkenner, oder? Das ist ein ziemlich billiger Tropfen.«
»Ich kenne mich schon ein bisschen mit Wein aus. Und das hier ist gar kein so übler billiger Tropfen.«
»Der Korkenzieher ist in der obersten Schublade – falls du die aufkriegst.« Er trat wieder an den Herd, während Leah den Wein aufmachte. Sein Haar war frisch gewaschen und noch feucht, und sein Gesicht wirkte ein bisschen weniger verhärmt, nicht mehr ganz so hart.
»Und, wie war dein Nickerchen?«, fragte sie.
»Angenehm. Zu lang. Ich bin mit einem furchtbar steifen Hals und völlig tauben Beinen aufgewacht. Du hättest mich wecken sollen.«
»Niemals. Du hast viel zu niedlich ausgesehen, wie du dich da in dem Sessel zusammengerollt hattest. Wie eine Haselmaus.«
»Na, großartig. Dabei bin ich in Wahrheit so verdammt männlich«, entgegnete Mark ein wenig kläglich, und Leah lachte. »Wie magst du dein Steak?«
Die Flasche Wein, die Leah mitgebracht hatte, war bald geleert, und Mark tauchte in das Kabuff unter der Treppe ab, um Nachschub zu holen. Sie aßen und unterhielten sich bis spät in die Nacht über ihr Leben, über Hester Canning und die Feenfotos und Marks Familiengeschichte. Leah erwähnte vorsichtshalber weder seinen Bruder noch seinen Vater, solange er nicht von sich aus über sie sprach, und von Ryan sagte sie kein Wort. Vielleicht bildete sie sich das ein, aber sie glaubte, Ryan regelrecht im Raum spüren zu können, so bemüht wichen sie und Mark jedem Gespräch über ihn aus. Marks Neugier kam ihr vor wie etwas Greifbares, Sichtbares, das sich tastend durch die Küche bewegte. Und
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