Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
hören, weil ich morgen früh mit George weggehen werde. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich darauf freue, Tess! Von jetzt an werde ich meinen eigenen Weg gehen und mich von niemandem mehr herumkommandieren lassen. Ich habe das Gefühl, dass für mich ein neues Leben beginnt, in dem ich endlich glücklich sein kann. Ich bin so aufgeregt, dass ich mir das Lachen kaum verkneifen kann, während ich meine Arbeit tue! Ich hoffe, Du wirst hier zufriedener sein, als ich es war. Du warst schon immer besser und braver als ich. Die Herrin ist eine gute Frau und bemüht sich stets, freundlich zu sein. Aber es gibt andere Möglichkeiten, falls Du Dich doch nicht hier einleben kannst, Tess! Erst neulich ist mir in der Metzgerei eine Frau begegnet, die fünfzehn Jahre lang auf Cowley Park gearbeitet hat, das ist ein großes Anwesen hier in der Nähe. Jetzt ist sie bei der Telefonvermittlung angestellt. Sie hat einen richtigen Beruf! Sie ist kein Dienstbote mehr. Die Dinge verändern sich, Tess, und nur zum Guten, glaube ich. Aber wie es Dir hier auch gefallen mag, Du wirst es viel, viel besser haben als im Frosham House. Ich werde Dir hierher schreiben, das verspreche ich. Wir sehen uns wieder, vielleicht schon bald. Gib gut auf Dich acht, und bitte sei stark genug, hierherzukommen und meine Stellung zu übernehmen.
Alles Liebe, Deine Freundin Cat
Mrs. Canning – wenn Sie dies lesen, dann deshalb, weil Sie nach mir gesucht und festgestellt haben, dass ich verschwunden bin. Ich entschuldige mich dafür, dass ich nicht ordentlich gekündigt habe, aber manchmal muss man seinem Herzen und seinen Sehnsüchten folgen und um das kämpfen, woran man glaubt. Ich kann nicht länger als Dienstbote leben, und als freier Mensch verlasse ich dieses Haus, ohne um Erlaubnis zu fragen. Ich bitte Sie nur um eines – bitte schicken Sie nach Teresa Kemp als Ersatz für mich. Sie ist im Armenhaus, wie ich Ihnen ja erzählt habe. Es nennt sich Frosham House und liegt an der Sidall Road in London. Sie ist ein gutes, liebes Mädchen, ganz anders als ich. Dass sie sich in einer so unglücklichen Lage befindet, ist allein meine Schuld, sie kann nichts dafür. Sie wird Ihnen ein gutes Dienstmädchen sein und hart arbeiten. Sagen Sie Mrs. Bell, dass sie nett zu ihr sein soll. Ich weiß, dass Sophie hinter ihrer scharfen Zunge ein weiches Herz hat, und das wird Tess brauchen, wenn sie herkommt. Sie ist beinahe noch ein Kind.
Ich muss Ihnen noch etwas erklären. Vielleicht haben Sie sich über meinen Mangel an Bescheidenheit und Anstand gewundert und darüber, dass ich ein Leben als Dienstbote nicht hinnehmen will. Das liegt an mir selbst, an meinem Temperament, aber mein Vater ist ebenso dafür verantwortlich. Er hat mir Erziehung und Bildung zukommen lassen, wie niemand meines Standes sie normalerweise erreichen kann, und mir gezeigt, dass es da draußen eine große Welt voller Geheimnisse gibt, die ich niemals sehen würde. Das war ein großes Unrecht. Deshalb habe ich meinen Stand nie als gottgegeben hingenommen. Und wenn jemand mein Blut – also meine Herkunft – als den Grund dafür angab, so scheiterte dieses Argument ebenfalls an ihm. Mein Vater ist Ihr Onkel, eben der Gentleman, der mich zu Ihnen geschickt hat. Meine Mutter hat in seinem Haus an der Broughton Street gearbeitet, als sie noch jünger war. Auf sein Drängen hin wurde sie seine Geliebte und dann schwanger – mit mir. Natürlich musste sie ihre Anstellung aufgeben, aber mein Vater kümmerte sich um sie und sorgte für sie. Das hat meine Mutter mir auf dem Sterbebett erzählt, und sie hat nie gelogen. Und als sie schließlich starb, wurde ich in seinem Haus aufgenommen. Vielleicht haben Sie in diesem Sommer ein wenig mehr über die Natur und das Verhalten von Männern gelernt, sodass Sie diese Tatsache nicht allzu unfasslich finden werden: Wir sind Cousinen, Mrs. Canning. Meine Mutter hielt es zwar für das Beste, mir die Wahrheit über meine Abstammung zu sagen, doch hat dieses Wissen mir nie etwas anderes als Kummer bereitet. Ich bin weder zum einen noch zum anderen geboren, weder Dame noch Dienstmädchen, also werde ich von heute an weder das eine noch das andere sein. Ich werde meinen eigenen Weg gehen.
Robin Durrant ist ein heimtückischer Lügner, dem man nicht trauen darf. Ich glaube, das wissen Sie schon, aber ich kann mich nur wiederholen: Wenn irgend möglich, schaffen Sie ihn aus dem Haus, und zwar sofort. Es mag mir nicht zustehen, Ihnen zu raten, aber da
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