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Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)

Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)

Titel: Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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allen Frauen, ist auch ihr Herz von Lust und Begierden erfüllt. Dies ist der Tag – heute bei Sonnenaufgang. Ich bin bereit, und ich werde hinausgehen, und ich werde sehen, und alles wird vollkommen sein. Der Morgen bricht heran, der Himmel ist klar, und das heilige Licht der Sonne wird die Welt berühren und erwecken. Bald wird der Tanz beginnen, und ich werde mittanzen und diese Hülle kristallinen Geistes zurücklassen und meine wahre Gestalt annehmen. Ich bin bereit.

1911
    Noch vor dem Morgengrauen schlägt Cat die Augen auf. Dies ist das letzte Mal, sagt sie sich und lächelt. Das letzte Mal, dass sie in einer Dienstbotenkammer aufwacht, ihr letzter Tag in einem Haus, wo sie arbeiten und sich als minderwertiger Mensch behandeln lassen und unfrei leben muss. Sie hält einen Moment lang inne und wird sich der klumpigen Matratze bewusst, die sich in ihren Rücken drückt, des schmerzhaften Ziehens in ihren Muskeln von den Rippen bis zu den Hüften, weil sie am Tag zuvor die Böden im Keller geschrubbt hat. Sie bemerkt den Geruch von Hefe, der unter den Rändern ihrer Fingernägel klebt, nachdem sie gestern Sophie Bell, der von der Hitze schwindlig geworden war, beim Kneten des Brotteigs abgelöst hat. Sie denkt daran, dass sie heute die Unterwäsche der Cannings waschen müsste, wenn sie bliebe. Als sie all das noch einmal bedacht und für sich verworfen hat, steht sie auf und gießt Wasser aus dem Krug in die Emailleschüssel. Das Plätschern erfüllt den Raum mit blechernen kleinen Echos. Fröstelnd wäscht sie sich Gesicht und Hände. Für einen Moment scheint die ganze Welt den Atem anzuhalten.
    Als sie an Sophie Bells Zimmer vorbeigeht, hält sie inne. Sie hat ihr nicht gesagt, dass sie fortgeht, und hinter der Aufregung spürt sie leise Gewissensbisse. Die lauten, schweren Atemzüge der Haushälterin sind durch die Tür deutlich zu hören, und Cat drückt kurz die Hand ans Holz. Zu spät, um sich jetzt noch zu verabschieden. Cat sagt ihr im Stillen Lebewohl und nimmt sich vor, ihr zu schreiben, sobald sie und George sich irgendwo eingemietet haben. In Hungerford oder Bedwyn vielleicht – kleine Städtchen und Dörfer liegen wie Perlen am Kanal gen Westen aufgereiht. Sie können sie besuchen, erkunden, sich einen Ort aussuchen. So leise wie möglich schleicht sie zur Hintertür, denn sie weiß, dass der Pfarrer nicht mehr zu Bett geht. Sein Kissen ist jeden Morgen ganz glatt. Seine Seite des Lakens nicht zerknittert. Die Tür zur Bibliothek ist geschlossen, und obwohl kein Licht durch die Ritze am unteren Rand fällt, scheint sie aufmerksam abzuwarten. Die Stille hinter dieser Tür fühlt sich wachsam an, bereit zum Sprung. Cat bleibt stehen und lauscht angestrengt nach irgendeinem Anzeichen von Bewegung dort drin. Als sie weitergeht, pocht ihr Herz. Die oberste Stufe der Kellertreppe quietscht, und sie erstarrt. Sie glaubt einen Schritt zu hören hinter dieser geheimnistuerischen Tür. Das Knarren eines Sessels, aus dem sich jemand erhebt. Aber sie will nicht umkehren, also eilt sie weiter, so leise sie kann. Die Kellertreppe hinunter, durch die Küche, zur Hintertür hinaus. Der Riegel schließt sich in der Stille wie mit einem Donnerschlag.
    Die Welt draußen ist noch farblos, ohne Konturen und beinahe unwirklich in diesem seltsamen Schimmer vor dem Morgengrauen – weder dunkel noch hell, nicht Tag, nicht Nacht. Ein Augenblick in der Schwebe, in dem das Vergangene schon fort ist und das Bevorstehende noch nicht begonnen hat. Cat geht durch diese Zeit und spürt das Blut in ihren Adern, frisch und lebendig. Die Luft legt Feuchtigkeit auf ihre Wangen und ihr Haar. Am Gartentor bleibt sie stehen und blickt zum Pfarrhaus mit seinen hohen Mauern und geschlossenen Fensterläden zurück. Wie sehr das Haus einem Gefängnis ähnelt – nie wieder wird sie einen Fuß über seine Schwelle setzen. Sie hofft von ganzem Herzen, dass dieser Ort, der für sie wie ein Gefängnis war, für Tess eine Zuflucht sein wird, zumindest in gewisser Weise. Ein sicherer Platz, an dem sie sich erholen und genesen kann. Sie hofft, dass sie ein wenig von all den brutalen Schrecken, die sie über ihre Freundin gebracht hat, wiedergutmachen kann, indem sie Tess hierherbringt.
    Die Zwangsernährung zeigte bei manchen der eingekerkerten Suffragetten eine seltsame Wirkung. Ihre Gesichter waren zerschunden, sie litten an häufigem Nasenbluten und nervösen Anfällen, die sie nicht unterdrücken konnten. Viele hatten eine schwere

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