Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
die Hose steckt.
»Geh zu Bett, Hetty. Albert wird heute Nacht allein zurechtkommen müssen«, sagt er ungeduldig. Hester schluckt. Ihre Kehle ist ausgedörrt und rau. Ganz langsam, denn ihre Glieder wollen ihr nicht gehorchen, zieht sie ihren Morgenmantel zu und tastet nach dem Gürtel. Dabei starrt sie Robin die ganze Zeit mit weit aufgerissenen Augen an, und jetzt überschlagen sich ihre Gedanken. Robin sieht ihren Gesichtsausdruck – entgeistert, fassungslos, entsetzt. Er verdreht ein wenig gereizt die Augen gen Himmel, kommt dann zu ihr und schmiegt die Hand an ihre Wange. »Ist schon gut, Hester. Niemand braucht je davon zu erfahren. Es ist ganz natürlich, weißt du, und gewiss kein Verbrechen! Leg dich jetzt schlafen. Ich werde keiner Menschenseele je davon erzählen, das schwöre ich.« Er spricht ein wenig gelangweilt, wie zu einem Kind. Und mehr sieht er auch nicht in ihr, erkennt Hester. Eine kleine Närrin, die er für seine eigenen Zwecke benutzen kann. Hester reißt den Kopf von seiner Hand zurück. Jetzt endlich kann sie sich bewegen, unbeholfen und langsam auf tauben Beinen. Aber sie kann die Schuld nicht ihm allein geben, das weiß sie sehr wohl. Sie verlässt den Raum mit starrem, leerem Blick wie eine Schlafwandlerin. Langsam und leise steigt sie eine Stufe nach der anderen empor, und mit jedem Schritt wird die Last ihrer Schuld schwerer.
12
Jetzt, da Cat eine Entscheidung getroffen und mit George alles ausgemacht hat, ist sie kribbelig vor Ungeduld. Sie sehnt sich danach, mit ihm auf und davon zu gehen, mit dem Zug an die Küste zu fahren. Nicht nur für einen halben Tag – den man ihr einmal in der Woche gewährt. Nicht einen kostbaren ganzen Tag lang, der ihr alle zwei Monate zusteht. Sondern zwei Tage, drei, vier – so lange sie wollen, am silbergrauen Meer, das sich bis zum fernen Horizont erstreckt, mit dem Geschmack des Salzwassers auf ihrer Haut. Erst dachte sie, dass sie kündigen oder Hester zumindest irgendwie vorwarnen sollte. Doch dann fällt ihr ein, dass Hester ihr Versprechen gebrochen hat, sie in den Ort zu schicken, damit sie George besuchen kann, und sie denkt auch an den Spruch auf ihrer Stickerei, die in Cats Zimmer hängt: »Demut ist des Dieners wahre Würde.« Dann besitze ich eben weder das eine noch das andere, denkt sie mit grimmiger Befriedigung. Die Worte wiederholen sich in ihren Gedanken und lassen sie vor Abscheu das Gesicht verziehen, und sie verschließt ihr Herz gegen die Pfarrersfrau. Soll sie doch eines Morgens vor ihrem ungedeckten Frühstückstisch stehen! Soll sie ruhig einmal genötigt sein, selbst einen Finger krumm zu machen. Aber es fällt ihr schwer, weiterhin wütend auf die Frau zu sein, als sie abends das Essen hi naufbringt. Hester hat dunkle Ringe unter den rot geweinten Augen. Ihr Gesicht wirkt verhärmt, ihre Miene starr und fassungslos. Sie sieht furchtbar elend aus, und Cat muss aufflackernde Besorgnis unterdrücken, den unerwarteten Drang, zu Hester zu gehen und herauszufinden, was sie so verstört hat.
Schließlich sagt sie sich, dass sie Hester ohnehin nicht helfen könnte, selbst wenn sie wüsste, woher dieser Kummer rührt. Sie ist ein Dienstmädchen, ein Nichts. Keine ernst zu nehmende Person, keine Freundin. Auch diese Nacht ist schwül und lau, die leichte Brise so weich, dass sie wie mit zärtlichen Fingern über ihre Haut streicht, während sie draußen steht und raucht und auf Robin Durrant wartet. Sie muss nicht lange warten. Wenn sie mit ihm sprechen will, braucht sie inzwischen nur beim Abendessen seinen Blick aufzufangen. Sie schlüpft aus ihren Schuhen, als er auf sie zukommt, und spürt das warme Pflaster des Hofs an den Fußsohlen und die weichen Moospolster in den Fugen, wie Streifen eines feinen Teppichs. Alles fühlt sich wirklicher an, jetzt, da sie weiß, dass sie frei sein wird. Alles ist lebendiger und strahlender.
»Nun? Wie geht es meinem kostspieligen Künstlermodell?«, fragt Robin. Er zündet sich eine Zigarette an, schiebt eine Seite seines Jacketts ein wenig zurück und steckt die Hand in die Hosentasche wie ein Schuljunge.
»Ich gehe fort. Wenn Sie mehr Bilder brauchen, müssen Sie sie bald machen. Morgen oder übermorgen.«
»Was soll das heißen, morgen oder übermorgen? Die Theosophische Gesellschaft hat noch gar nicht entschieden, wie sie vorgehen, wen sie herschicken wollen. So schnell geht das nicht! Wir müssen noch ein bisschen abwarten.« Er runzelt die Stirn.
»Nein, ich werde nicht warten.
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