Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
wir uns nie wiedersehen werden, tue ich es trotzdem. Ich weiß ein wenig über Ihre Schwierigkeiten mit dem Pfarrer. Als Dienstbote erfährt man so manches, ob man will oder nicht. In London kannte ich einen Herrn, einen Freund meines Vaters, der hin und wieder zu Besuch kam. Dabei befand er sich stets in Gesellschaft junger, schöner Männer, die er hielt und verwöhnte wie Haustiere. Er hielt Frauen in jeglicher Hinsicht für minderwertig und mied ihre Gesellschaft, im Leben wie in seinem Bett. Falls Sie den Verdacht hegen, dass Ihr Mann ähnlich empfindet, werden Sie niemals glücklich werden, wenn Sie ihn nicht verlassen oder ihn so akzeptieren, wie er ist, und sich anderswo angenehme Gesellschaft suchen.
Auf Wiedersehen, und bitte hören Sie auf mich, was Teresa Kemp angeht. An ihr können Sie wahrhaftig viel Gutes tun. Ich habe ihr einen Brief geschrieben, den ich selbst aufgeben werde, und sie wissen lassen, dass sie hoffentlich von Ihnen hören wird. Das ist vermessen von mir, ich weiß, aber ich vertraue darauf, dass Sie richtig und mildtätig handeln werden. Ich wünsche Ihnen alles Gute und hoffe, dass Sie mir in einem Winkel Ihres Herzens dasselbe wünschen können.
Ihre Cousine Catherine Morley
Cat beendet den Brief mit Krämpfen in der Hand, denn ihre Muskeln sind eher ans Schrubben gewöhnt denn ans Schreiben. Sie steckt beide Briefe in Umschläge, die sie versiegelt und adressiert, und hinterlässt den für Hester Canning auf dem Nachttisch, aufrecht an die Wand gelehnt, sodass er nicht zu übersehen ist. Den Brief an Tess steckt sie in ihre kleine Tasche, die schon mit ihren wenigen Habseligkeiten und dem bisschen gesparten Geld gepackt ist. Der Mond draußen vor dem Fenster ist noch voll, fleckig und bleich wie frische Milch. Er bescheint eine Landschaft aus graphitgrauen Schatten und silbrigen Umrissen, und in der vollkommenen, reglosen Stille schläft Cat ein.
Aus dem Tagebuch des Reverend Albert Canning
Dienstag, 8. August 1911
Der Zeitpunkt ist gekommen. Er hat mir gesagt, ich solle mich fernhalten, weil er fühlt, dass dies der richtige Zeitpunkt ist, und ich fühle es auch. Er geht mit seiner Kamera, daher weiß ich es, ich weiß es. Er wird sie wieder herbeirufen, er will mehr Aufnahmen machen. Ich werde hinausgehen, und ich werde dort sein, und ich werde beweisen, dass ich würdig bin, denn ich werde mich ihm nicht offenbaren. Ich werde ihn ganz ungestört seine großen Werke tun lassen, und wenn die Fotografien gemacht sind, werde ich ihm enthüllen, dass ich ebenfalls dort war. Und das wird der Beweis dafür sein, dass ich bereit bin, dass ich rein bin, dass die Elementare bis in mein Innerstes schauen und sehen können, dass ich bin, was ich sein sollte. Die Nacht war lang, doch ich habe gewartet, und die vielen Nächte draußen in den Auen waren nicht vergeudet. Ohne die Energie der Sonne bleiben die ätherischen Geschöpfe verborgen – so, wie das Gänseblümchen seine Blütenblätter einrollt und die Augen vor der Dunkelheit verschließt, so schlafen auch sie. Aber ich habe viele Stunden dort verbracht, allein und in Dunkelheit gehüllt, ich habe meine Seele und mein Herz studiert und nach innen geschaut, und ich habe alle Lust und materielle Gier ausgetrieben und all die schlechten, falschen Empfindungen, mit denen der Teufel mich in letzter Zeit gequält hat. Ich habe mich von alldem gereinigt und nichts zurückgelassen als die strahlende, reine Energie meines astralen und ätherischen Kerns. Ich bin bereit, das weiß ich. Ich weiß es. Niemals habe ich beim bloßen Gebet solch lebhafte Visionen und Gefühle erlebt. Wie tot und kalt die Steine meiner Kirche mir nun erscheinen, wo doch die wahre Kirche die ganze Zeit über allenthalben um mich herum war und ich sie nicht sehen konnte. Bis jetzt! Die Kirche des lebendigen Lichts und des lebendigen Atems und des lebendigen Geistes von allem, was gut und heilig ist, umgibt uns in ihrer grünen und goldenen Pracht überall, und ich habe sie endlich erkannt und gehöre ihr an. Und jene, die unreinen Herzens sind und deren Geist diese gewaltigen Wahrheiten nicht erfassen kann, werden zurückbleiben, wo sie sind, weiter hinten, weit unter uns auf diesem Pfad, dieser Leiter zur Erleuchtung. Ihnen bleiben noch viele Leben, viele Umläufe des Zyklus, um für jene Sünden und Übeltaten zu büßen, die ihnen in diesem Leben die Entwicklung und den Aufstieg unmöglich gemacht haben. Sogar meine Frau muss büßen und sich läutern. Wie bei
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