Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
Hester lässt den Blick verzweifelt durch den Raum schweifen, während Angst wie Eiswasser in ihre Eingeweide schießt. Ein kleiner weißer Umschlag auf dem Nachttisch fällt ihr ins Auge. Unten hört sie Sophie Bell in lautes Geheul ausbrechen. Eine eigentümliche Stille überkommt Hester. Das Haus ist von Lärm erfüllt – schwere Schritte, als der Polizist Sophie Bell in die Küche führt und versucht, ihre Aussage aufzunehmen, während die Frau ununterbrochen laut und verzweifelt schluchzt. Dabei schien sie Cat nur gerade so zu dulden, kommt es Hester beiläufig in den Sinn. Sie greift nach dem Umschlag, auf dem ihr Name steht, und öffnet ihn vorsichtig. Cats Handschrift, die sie noch nie zuvor gesehen hat, ist elegant und fließend geneigt. Viel eleganter auch, als die Schrift eines Hausmädchens sein sollte. Viel eleganter als Hesters eigene Handschrift. Die Worte strömen in einem sanften Rhythmus über das Papier, und Hester hat sie alle schon einmal betrachtet, ehe ihr bewusst wird, dass sie kein einziges verstanden hat. Sie steckt den Brief in die Tasche und geht auf hölzernen Beinen, so steif und schwerfällig, dass sie mehrmals stolpert, wieder nach unten.
Die Tür zur Bibliothek ist noch immer geschlossen. Falls Albert dort drin ist, hat er sich noch nicht bequemt nachzusehen, was diesen Aufruhr im Haus verursacht. Von draußen ist ein kleiner Zweispänner zu hören, der die Landstraße entlangkommt und vor dem Pfarrhaus anhält. Weitere Schritte, neuerliches Klopfen an der Haustür. Hester ignoriert es. Sie steht dicht vor der Tür zur Bibliothek, so dicht, dass das gemaserte Holz ihr gesamtes Gesichtsfeld ausfüllt. Ihr Atem geht schnell und flach, und sie bekommt nicht genug Sauerstoff. Sie hebt die Hand, um anzuklopfen, hält inne, kann sich nicht dazu überwinden. Irgendetwas sagt ihr, dass es zwecklos ist. Ob Albert drinnen ist oder nicht, es ist sinnlos anzuklopfen. Trotz der Wärme zittert sie heftig, als sie den Türknauf dreht und eintritt.
Der Raum liegt im Dunkeln, die schweren Samtvorhänge sind fest zugezogen. Sie wartet einen Moment lang an der Schwelle, bis ihre Augen sich an die Finsternis gewöhnt haben. Als sie hinter sich Schritte im Flur hört, tritt sie rasch vor und schiebt die Tür sacht hinter sich zu, damit niemand sie bemerkt. Die Atmosphäre in dem Raum ist schwer und stickig, als sei er seit Wochen nicht mehr richtig gelüftet worden. Am Schreibtisch ist ein dunkler Umriss zu erkennen, und Hesters Herz macht einen Satz. Doch dann erkennt sie, dass es nur Alberts Mantel ist, der über der Stuhllehne hängt. Fürchte ich mich jetzt etwa schon vor meinem eigenen Mann?, fragt sie sich. Ihr Inneres zieht sich zusammen wie eine Kerzenflamme, die in einen kalten Luftzug gerät. Auf dem Schreibtisch liegen die Frena-Kamera, die sie so bewundert hat, als Robin zum ersten Mal hier erschien, und Alberts Tagebuch. Es ist nicht zugeklappt und mit einer Schnur umwickelt, wie er es sonst zu hinterlassen pflegt. Sein Federhalter ist zwischen die Seiten geklemmt, als wäre er mitten im Schreiben aufgestanden und fortgegangen. Das Zimmer ist leer, und Hesters Nerven beruhigen sich ein wenig. Sie geht weiter, um die Vorhänge aufzuziehen und das Fenster zu öffnen. Sie will die stickige Luft ver treiben, ein wenig beißend vor Staub und verpestet von Heimlichtuerei, von Alberts finsterer Faszination. Sie kommt keine drei Schritte weit, da stößt sie mit dem Fuß gegen etwas Schweres, stolpert und knickt um bei ihrem Versuch, sich abzufangen. Sie bückt sich nach dem Gegenstand. Es ist Robin Durrants Ledertasche. Stirnrunzelnd hebt Hester sie vom Boden auf. Der lederne Trageriemen fühlt sich irgendwie schmutzig an, klebrig und feucht. Sie hat Robin noch nie ohne diese Tasche aus dem Haus gehen sehen. Hester nimmt sie mit zum Fenster, um sie bei Licht zu betrachten, doch als sie hastig die Vorhänge beiseiteschiebt, lässt sie das Ding entsetzt fallen. Ihre Hände sind rot verschmiert, wo sie die Tasche berührt hat. Die Flecken tragen den unverwechselbaren, an Eisen erinnernden Geruch von Blut, der Hester würgen lässt. Einige lange Augenblicke steht sie da wie erstarrt, während Eiszapfen abgrundtiefen, kalten Grauens sie durchdringen.
13
2011
Leah wartete ungeduldig, während das Telefon klingelte, und zappelte nervös herum. Sie saß im blassen, vanillegelben Sonnenschein vor der Bibliothek, während Mark drinnen die Zeitungsberichte über den Mord an Catherine Morley las. Die
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