Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
finster die Brauen.
»Als Kahnführer braucht man nicht lesen zu können«, sagt er. »Also dann, guten Tag.« Er wendet sich wieder seinem Kahn zu und geht mit einem großen, sicheren Schritt an Bord.
»Ach, so ist das – Sie dürfen über mich lachen, ich aber nicht über Sie, ja?«, ruft Cat ihm vom Ufer aus nach.
George hält inne und schaut sie freundlich an. »Tja, der Punkt geht wohl an Sie, Miss Morley«, gibt er zu.
»Ich heiße Cat«, sagt sie. »Niemand nennt mich Miss Mor ley und sagt Sie zu mir, außer …« Sie unterbricht sich. Außer den Polizisten, die sie verhaftet haben, dem Richter, der sie verurteilt hat. Sie zuckt mit den Schultern. »Niemand.«
»Bist du jetzt öfter im Ort, Cat?«
»Hin und wieder, denke ich.«
»Dann werde ich die Augen nach dir offen halten. Und die Ohren nach deiner scharfen Zunge.« Er lächelt. Cat beäugt ihn und neigt den Kopf zur Seite. Sie mag das Funkeln in seinen Augen, und es gefällt ihr, dass sie ihn beschämen konnte wie einen Schuljungen. Mit einem knappen Nicken wendet sie sich ab und geht weiter in den Ort. Nach dem Besuch im Postamt kauft sie die Madeleines, die sie vorsichtig in der Hand trägt. Sie sind noch warm und klebrig, und Vanilleduft steigt aus dem Einwickelpapier auf. Sie kauft sich Zigaretten und die neue Ausgabe der Votes for Women für einen Penny bei Menzies. Sie wird das Journal unter ihrem Rock verstecken, wenn sie ins Haus zurückkehrt, es hinauf in ihr Zimmer schmuggeln und nach Feierabend lesen.
Am Donnerstag essen Hester und Albert früh zu Abend. Sie verspeisen ihr Lammkotelett, während es draußen dunkel wird und die Vögel von Fledermäusen abgelöst werden, die durch den Garten sausen. Cat serviert und geht von einem Ende des Tisches zum anderen, erst mit der Suppenterrine, dann mit der Fleischplatte, danach mit dem Gemüse. In London hat sie gelernt, dass sie dabei lautlos und unsichtbar zu sein hat. Dienstboten wurden bei Tisch gar nicht zur Kenntnis genommen. Doch jedes Mal, wenn sie etwas auf Hesters Teller legt, lächelt Hester und bedankt sich leise. Als das die ersten paar Mal geschah, war Cat erschrocken und wusste gar nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Jetzt murmelt sie leise »Madam«, jedes Mal, immer wieder, wie ein zartes Echo auf Hesters Worte. Albert scheint von alldem nichts zu bemerken, er isst mit einem vagen, versonnenen Gesichtsausdruck, der hin und wieder vom Ansatz eines Stirnrunzelns, eines Lächelns oder von einer ungläubig hochgezogenen Augenbraue belebt wird. Er ist ganz in seine Gedanken versunken, und Hester beobachtet liebevoll, wie sie sich auf seinem Gesicht spiegeln.
»Was ist denn das Thema des heutigen Vortrags, mein Lieber?«, erkundigt sich Hester, sobald Cat sich zurückgezogen hat. »Albert?«, hakt sie nach, als er nicht antwortet.
»Verzeihung, wie bitte, Liebes?«
»Der Vortrag heute Abend. Ich hätte gern gewusst, worum es geht.« Ein- oder zweimal in der Woche finden in Newbury Vorträge statt, und Albert bemüht sich stets, mindestens einen davon zu besuchen, vor allem, wenn es um ein philosophisches, biologisches oder geistliches Thema geht.
»Ah – der dürfte äußerst interessant werden. Der angekündigte Titel lautet Naturgeister und ihr Platz in der Weisheitsreligion . Der Redner gilt in theosophischen Kreisen als aufsteigender Stern – Durrant heißt er, glaube ich. Er kommt aus Reading, sofern ich mich recht erinnere.«
» Naturgeister? Was genau meint er denn damit?«, fragt Hester verwundert. Nach der Bedeutung des Wortes theosophisch fragt sie nicht – sie ist unsicher, ob sie es richtig aussprechen könnte.
»Tja, liebe Hetty, genau das hoffe ich heute Abend zu erfahren«, antwortet Albert.
»Meint er damit etwa Kobolde und Ähnliches?« Sie lacht kurz auf, wird aber sofort wieder ernst, als Albert leicht die Brauen runzelt.
»Es steht uns nicht zu, über etwas zu spotten, nur weil wir es nicht verstehen, Hetty. Weshalb sollten die Figuren aus Märchen und Mythen nicht eine gewisse Basis in der Realität haben, auf der einen oder anderen Ebene?«
»Ja, natürlich, ich wollte damit nicht …«
»Immerhin wissen wir alle, dass die menschliche Seele existiert, und ist ein Gespenst nicht nur der körperlose Geist einer menschlichen Seele? Bei der Vielzahl an Beweisen würde deren Existenz doch gewiss niemand leugnen wollen?«
»Natürlich nicht, Bertie«, stimmt Hester zu.
»Die Hypothese lautet, so glaube ich, dass auch Pflanzen so etwas wie einen
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