Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
wie Esmes Finger sich fester um ihre schließen.
Ein Dienstmädchen löscht alle Lampen, entzündet eine einzelne Kerze und stellt sie in die Mitte des Tischs, ehe es sich mit gesenktem Blick zurückzieht. Die Kerze lässt winzige Flammen in den Edelsteinen an Mrs. Averys Fingern, Hals und Ohren aufflackern. Albert würde einen solchen Prunk für eine einfache Damengesellschaft nicht gutheißen. Hester unterdrückt die plötzlich in ihr aufsteigenden Schuld gefühle. Albert würde an ihrem Abend hier überhaupt wenig gutheißen, doch für sie sind diese Zusammenkünfte absolut fesselnd. Schweigen senkt sich über den Tisch, als die Frauen schließlich damit fertig sind, sich zurechtzusetzen und an ihren Röcken zu zupfen, und ganz still werden. Hester atmet tief durch, um ihre flatternden Nerven zu beruhigen.
»Ich bitte Sie alle, Ihre Gedanken nun der Geisterwelt zuzuwenden, fort von allem, was Sie um sich herum sehen und hören«, beginnt Mrs. Dunthorpe. Sie trägt ein Schultertuch in hellem Smaragdgrün, das schillert wie ein Starenflügel. »Schließen Sie die Augen und lenken Sie Ihre Gedanken mit all Ihrer Willenskraft. Senden Sie eine Einladung aus, heißen Sie jene Reisenden auf den geistigen Pfaden willkommen, die uns vielleicht hören und uns mit ihrem Besuch beehren möchten.« Ihre Stimme wird tiefer und volltönender. Hester, so kribbelig vor Aufregung, dass sie kaum stillsitzen kann, öffnet ein Auge und wirft einen Blick in die Runde. Sie ist umgeben von den Gesichtern ihrer Gefährtinnen, die auf unterschiedliche Weise Flehen, Inbrunst oder Faszination ausdrücken. Mrs. Dunthorpe hat den Kopf in den Nacken gelegt, und ihre Lippen bewegen sich lautlos. »Es ist eine unter uns, die unsere Energien stört«, blafft das Medium plötzlich. Hester zuckt schuldbewusst zusammen und wirft ihr einen Blick zu, doch Mrs. Dunthorpes Augen sind nach wie vor geschlossen. »Der Kreis unserer Gedanken muss ungebrochen sein, sonst kann sich kein Geist nähern«, fährt sie gereizt fort. Hastig kneift Hester die Augen zu und versucht, sich zu konzentrieren.
Ein langes, tiefes Schweigen tritt ein. Nur leise Atemzüge sind zu hören und das Stöhnen des Windes, der um die Ecken des Hauses wirbelt. Hester spürt Esme neben sich zittern, als sei die junge Frau fluchtbereit wie ein schreckhaftes Reh. »Möchtest du nicht näher kommen? Ich kann dich beinahe hören«, flüstert Mrs. Dunthorpe kaum hörbar. Hester lauscht angestrengt. Sie stellt sich die Geisterwelt als riesige, schwere, schwarze Flügeltür vor, dahinter ein stürmisches Meer von Seelen, die zu verloren oder zu verwirrt sind, um Himmel oder Hölle zu finden. Während Mrs. Dunthorpe spricht, sieht sie in ihrer Fantasie, wie gespenstische Finger sich durch den Türspalt drücken und schieben und sie immer weiter öffnen, um dieser beschwörenden Stimme zu folgen und den Lebenden einen Blick in das kalte, unirdische Reich dahinter zu gewähren. Esmes Zittern hat aufgehört, ihre Hand ist so schlaff geworden wie ein toter Fisch und ebenso kalt. Hester bekommt eine Gänsehaut vor Abscheu, wagt es aber nicht, die Augen zu öffnen oder den Kopf zu wenden, um nach Esme zu sehen. Was, wenn sie jener schwarzen Tür zu nah gekommen sind? Was, wenn sie sich verlaufen haben und selbst in die Geisterwelt hineingeraten sind? Was, wenn die kleine Esme gar nicht mehr da ist und Hester stattdessen die Hand eines Geistes hält – die kalte, tote Hand eines Leichnams? Sie kann keinen Muskel rühren und bekommt kaum mehr Luft.
»Jemand spricht zu mir!«, sagt Mrs. Dunthorpe plötzlich mit vor Erregung angespannter Stimme. »Ja! Ja, ich kann dich hören! Nenn mir deinen Namen …«, bittet sie heiser. Hester hält den Atem an und lauscht mit aller Kraft nach der Stimme, die das Medium hört. »Der Geist bringt eine Warnung … eine Warnung für eine von uns hier in diesem Raum! Er sagt, es stehen dunkle Zeiten bevor … etwas Böses hat ihr Haus betreten, eines unserer Häuser, doch wir ahnen nichts davon«, sagt sie, und ihre angstvoll greinende Stimme senkt sich zu einem Flüstern herab. Hester hört jemanden nach Luft schnappen, kann aber nicht erkennen, wer es ist. »Sag uns mehr, lieber Geist, wer ist dieser Eindringling? Was hat derjenige vor? Woher weißt du davon – bist du mit jemandem in diesem Raum verwandt? Oder befreundet? Wir nehmen deinen Rat gerne an!« Lange herrscht Schweigen, und im unschuldigen Wind hört Hester Stimmen, die schreien vor Angst und Qual.
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