Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
sie ruhig zu halten.
»Solange nur Männer wählen können, wird die Regierung dieses Landes sich auch nur der wirtschaftlichen Belange von Männern annehmen. Unsere Gegner verweisen darauf, dass wir nicht dieselbe Erwerbskraft haben wie Männer. Nun, wie könnten wir denn auch, wenn uns alle lukrativen und wichtigen Stellungen verwehrt werden – von Männern? Solange eine Frau keine politische Macht besitzt, wird sie auch keine ökonomische Macht besitzen und stets auf unterster Stufe stehen, was das Einkommen anbelangt. Solange das Parlament nicht uns als Wählerinnen gegenüber verantwortlich ist, wird sich an diesen Ungerechtigkeiten, diesen Missverhältnissen nichts ändern! Es heißt, wenn wir das Wahlrecht bekämen, würden die Frauen nicht mehr auf die Männer hören, und alles würde im Chaos versinken. Wir aber sagen: Warum sollten die Männer nicht einmal auf die Frauen hören? Kameradinnen! Gebt die Botschaft weiter! Opfert eure Zeit für die Sache, gebt euer Geld, wenn ihr könnt. Erhebt die Stimmen und verschafft euch Gehör!«
Es wurde begeistert applaudiert, und dann bekam eine gebrechliche Dame, deren braunes Kleid genau zu den braunen Ringen unter ihren Augen passte, eine Medaille verliehen. Sie hatte bis vor Kurzem im Gefängnis gesessen, weil sie eine Versammlung der Liberal Party gestört hatte. Die Frau hef tete sich das Ehrenzeichen ans Kleid und erzählte mit schwa cher, näselnder Stimme, was sie erlitten hatte. Sie dankte ihren Schwestern für all die Unterstützung und schwor weiterzukämpfen. Ihr wurde stehend applaudiert.
»Gehen wir lieber, Cat. Es ist schon fast vier Uhr«, flüsterte Tess drängend, als die Dame das Podium verließ.
»Noch nicht. Ich will erst fragen, was wir tun können!«
»Was meinst du damit, Cat? Was sollen wir denn tun?«
»Wolltest du denn, dass wir heute zum ersten und letzten Mal hierherkommen? Willst du ihnen nicht helfen? Zu ihnen gehören?«, fragte Cat ungläubig.
»Eine von ihnen werden?«, fragte Tess verwundert.
»Du hast doch gehört, was sie gesagt hat! Weshalb sollten wir nicht wählen dürfen? Warum sollte ich weniger verdienen als der Laufbursche, obwohl ich älter bin, länger im Haus arbeite und mein Rang höher ist als seiner?«
»Aber das ist nichts für Unseresgleichen – wir müssen unsere Arbeit tun. Sieh dir doch all diese reichen Damen an! Die haben die Zeit und das Geld, daran teilzunehmen. Was haben wir denn schon?«
»Und wir werden für immer keine Zeit und kein Geld haben und zu viel Arbeit verrichten, wenn wir nichts dage gen unternehmen. Willst du denn gar nicht Teil von etwas Großem sein?«, erwiderte Cat und schüttelte Tess leicht. Tess machte große Augen und schluckte, schließlich nickte sie.
»Doch, das will ich, Cat. Wenn du mit dabei bist. Ich will ein Teil davon sein«, sagte sie und blickte in sanftmütigem Staunen zu Cat auf.
»Gut.« Cat lächelte. »Dann komm. Erkundigen wir uns, was wir tun können.« Sie nahmen Flugblätter mit, bezahlten einen Penny für eine Ausgabe der monatlich erscheinenden Votes for Women , erfuhren, wo sich das Büro der Women’s Social and Political Union in ihrem Viertel befand und dass sie dorthin gehen und sich für einen Shilling als Mitglieder eintragen lassen konnten.
In den darauffolgenden Wochen besuchten sie den Women’s Press Shop in der Charing Cross Road, um sich mit den Farben auszustatten – dort gab es alle möglichen Accessoires in Weiß, Purpur und Grün zu kaufen, von Hutnadeln bis hin zu Fahrrädern. Sie meldeten sich freiwillig dafür, Briefumschläge zu bestücken, Flugblätter zu verteilen und Vorträge und Spendensammlungen zu bewerben. Und so verbrachten sie fortan jeden Sonntagnachmittag, obwohl ihre Füße brannten und ihnen der Rücken wehtat und sie sich eigentlich im Bett ausruhen oder in den Pub gehen oder mit einem Mann hätten treffen können. Die ganze Woche lang trugen sie ihre WSPU -Abzeichen an der Unterwäsche, wo niemand sie sehen und konfiszieren konnte, und von da an waren sie nicht mehr nur Dienstmädchen, sie waren Suffragetten.
Anfangs war es ein Spiel, denkt Cat nun. Ein Spiel, bei dem sie die Regeln diktierte und Tess einfach mitmachte. Bei diesem Gedanken schließt Cat gequält die Augen. Der Brief liegt noch unvollendet vor ihr. Wie kann sie all das in etwas so Unzulänglichem wie einem Brief ansprechen? Wie kann sie hoffen, sie könnte das jemals wiedergutmachen? Die liebe, vertrauensvolle Tess, fast noch ein Kind und voller
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