Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
schreibe ich immer noch an demselben Lied«, antwortet Albert seufzend. »Schon seit drei Wochen! Es gelingt mir einfach nicht, die Worte der Melodie anzupassen … ich werde noch verrückt dabei.«
»Du brauchst eine Pause, mein Liebster«, schlägt sie vor.
»Ich kann nicht aufhören. Nicht, ehe ich wenigstens ein Stück vorangekommen bin.«
»Spiel es mir doch einmal vor. Vielleicht kann ich dir helfen.« Hester setzt sich neben ihn auf die Klavierbank, den Tasten zugewandt.
»Also schön, aber es ist noch nicht annähernd publikumsreif«, warnt Albert sie verlegen.
»Ich bin doch auch kein Publikum. Ich bin deine Frau.« Hester lächelt und schlingt einen Arm um seinen, nur ganz leicht, um ihn nicht zu behindern. Albert spielt einen Akkord, um die richtige Tonlage zu finden.
»Oh! Gott, unser Vater, überall schauen wir – die Früchte Deiner Fülle, Deine himmlische Zier! Wenn die Wellen am Strand tosen, Vögel singen immerfort – hören wir Deine Stimme und folgen Deinem Wort …«, singt Albert leise, und seine Stimme hüpft zwischen den Tönen hin und her wie ein Kind beim Himmel-und-Hölle-Spiel. »Da, hörst du?« Frustriert hört er zu spielen auf. »Diese eine Zeile will einfach nicht mit der Musik harmonieren!« Hester streckt die Hand aus und spielt die letzten paar Noten. Sie summt leise mit und lässt die Melodie ihren eigenen Rhythmus annehmen.
»Wie wäre es denn so …« Sie räuspert sich. »Wenn die Meereswogen rauschen, Vögel singen immerfort, hören wir Deine Stimme und folgen Deinem Wort«, singt sie.
Albert schaut sie bewundernd an. »Liebling, du hast eine musikalische Begabung, um die ich dich wahrhaftig beneide. Du solltest Kirchenlieder komponieren, nicht ich! Ich danke dir.« Er küsst sie auf die Stirn, und sein Gesichtsausdruck ist fröhlich und offen. Hester stockt der Atem, und sie wagt es nicht, ein Wort zu sagen. Also lächelt sie nur und spielt die schlichte Melodie noch einmal. Und da sitzen sie in der weichen Abendsonne, Arm in Arm, und summen, singen und spielen leise vor sich hin.
Um elf Uhr liegt das ganze Haus in Dunkelheit und Schweigen. Die Nacht ist ungewöhnlich mild für diese Jahreszeit. Auf leisen Sohlen verlässt Cat ihre Kammer, schleicht den Korridor entlang und die Hintertreppe hinab. Ihre Füße wissen bereits, welche Dielenbretter sie meiden und wo sie aufsetzen müssen, um kein Geräusch zu machen. Obwohl es schon viel bräuchte, um einen Haushalt zu wecken, der an das gewaltige Schnarchen von Sophie Bell gewöhnt ist, denkt sie bei sich. Draußen auf dem Hof raucht Cat eine Zigarette, an die warme Ziegelmauer gelehnt, und sieht zu, wie die Glut bei jedem Zug rot aufflammt. Wenn sie wieder verblasst, zeichnet sie Muster vor Cats Augen in die Dunkel heit. Auf beiden Seiten des Hauses rufen Eulen und un terhalten sich mit beinahe kindlich klingendem Flöten und Piepsen. Der Himmel ist samtig blauschwarz, und sie beobachtet die kleinen Fledermäuse, die davor herumsausen, fasziniert von ihrem lautlosen Flug. Auf einmal kommt es für sie gar nicht mehr infrage, wieder nach drinnen zu gehen, sich ins Bett zu legen und stillzuhalten in diesem neuen, vornehmen Gefängnis, in das man sie geschickt hat. Dafür summt viel zu viel Leben in der Nachtluft wie statische Elektrizität. Cat macht sich auf den Weg über die Wiese, und der Tau auf den gefiederten Gräsern durchweicht ihre Schuhe.
Ihre Augen passen sich immer besser an die Dunkelheit an, während sie zum Kanal läuft und dort links abbiegt, um dem Treidelpfad nach Thatcham zu folgen. Ihr Herz schlägt schneller, und sie spürt eine ähnliche Erregung wie damals, als sie und Tess zu ihrer ersten öffentlichen Versammlung gingen. Seither sind erst achtzehn Monate vergangen. Ihr kommen sie vor wie ein ganzes Leben. Eine andere Welt. Sie verspürt ein prickelndes Gefühl, das sie nicht benennen kann – beinahe ängstlich, etwas, wovon sie sich fast abwenden möchte, dem sie zugleich aber nicht widerstehen kann. Es lässt ihr Blut rauschen und ihre Fingerspitzen kribbeln. Dort, wo die Lagerhäuser und anderen Gebäude sich allmählich zu dem kleinen Ort verdichten, sitzen einige Männer auf der Brücke, rauchen, reden und lachen. Ein anderes Mädchen hätte darin vielleicht eine Gefahr gesehen, doch Cat fürchtet sich nicht vor ihnen.
»Na, was haben wir denn da?«, ruft einer von ihnen, als sie schnurstracks auf die Brücke zugeht, sie betritt und mit vor der Brust verschränkten Armen darauf stehen
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