Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
Holt.«
»Das klingt ja ziemlich nach ländlicher Idylle.«
»Stimmt. Liegt irgendwo in Berkshire. Nicht ganz am Ende der Welt, aber zumindest komme ich mal aus London raus. Tapetenwechsel, weißt du? Ein neues Projekt«, erklärte Leah.
»Wie war er denn so? Wie geht es ihm?«, fragte Sam, deren Neugier schließlich doch die Oberhand gewann.
»Unverändert. Prächtig. Ganz großartig.« Leah zuckte unglücklich mit den Schultern.
»Wo willst du anfangen? Mit der Recherche, meine ich.«
»Ich denke, am besten im Pfarrhaus. Die Briefe sind nicht datiert, aber den zweiten hat sie geschrieben, nachdem sie erfahren hatte, dass er in den Krieg gezogen war, also irgend wann zwischen 1914 und 1918 . Und aus dem, was sie schreibt, kann man schließen, dass sie den ersten Brief etwa drei oder vier Jahre vorher geschrieben hat. Also brauche ich nur herauszufinden, wer damals dort gewohnt hat und ob Kontakt zu jungen Männern im kriegsfähigen Alter bestand, und was ich sonst noch in Erfahrung bringen kann.« Sie zuckte mit den Schultern. »Die Kriegsgräberfürsorge hat bereits festgestellt, dass kein Soldat mit dieser Adresse registriert war, aber vielleicht kann sich jemand an irgendetwas erinnern.«
Wenn sie auf der Stelle hätte aufstehen und gehen können, hätte sie es getan. Über diese Sache zu sprechen weckte in ihr den beinahe verzweifelten Wunsch, auf der Stelle anzufangen und herauszufinden, was die Verfasserin dieser Briefe so sehr gefürchtet hatte, was sie so verzweifelt hatte wissen wollen. Plötzlich fiel Leah auf, wie sehr diese angespannte Verzweiflung, der Drang danach, sich selbst aufzugeben, der aus diesen Briefen sprach, sie an ihre eigenen Gefühle in Bezug auf Ryan erinnerten. Ihre eigenen Qualen konnte sie nicht lindern, aber vielleicht die von H. Canning. Auf einmal sehnte sie sich danach, irgendwo zu sein, wo es keine Erinnerungen an Ryan gab, an ihre gemeinsame Zeit, wo niemand auch nur von Ryans Existenz wusste. Er klebte an ihr wie Spinnweben, und es juckte sie in den Fingern, sie endlich abzustreifen.
Leah wohnte immer noch in der Wohnung in der Nähe des Clapham Common, die sie mit Ryan geteilt hatte. Sie hatten vier Jahre lang zusammengelebt, seit sie nur zwei Monate nach ihrer ersten Begegnung zusammengezogen waren. Leah war sich noch nie einer Sache so sicher gewesen, dabei war sie normalerweise kein impulsiver Mensch. Sie hatte sich immer als skeptisch betrachtet, was die Liebe anging. Doch dann war plötzlich ein Mann auf der Bildfläche erschienen, der allein durch seine Gegenwart dafür sorgen konnte, dass sie sich viel lebendiger fühlte als je zuvor. Er brauchte sie nicht einmal zu berühren. Sie hatte scherzhaft zu ihren Freundinnen gesagt, dass sie endlich verstehe, worum es in all den Popsongs ging, doch in Wirklichkeit war das kein Scherz gewesen. Sie hatte das Gefühl, als seien ihr die Augen geöffnet worden – oder vielleicht eher das Herz. Als sei sie in ein riesiges, wunderbares Geheimnis eingeweiht worden. Lange Zeit war sie geradezu selbstgefällig gewesen, und danach bombardierten ihre inneren Stimmen sie ständig mit grausamen Sprüchen – über Hochmut, der vor dem Fall kam, und den schmalen Grat zwischen Liebe und Hass.
Sie weigerte sich, aus der Wohnung auszuziehen, die sie liebte und in der sie schon zwei Jahre lang gewohnt hatte, ehe sie Ryan überhaupt begegnet war. Sie würde wieder allein darin leben, entschied sie. Das war jetzt eben nicht mehr Ryans und ihr gemeinsames Zuhause, sondern wieder ihr eigenes – weiter nichts. Doch das stimmte nicht. Die Wohnung war von ihm durchdrungen, von Echos seiner Präsenz, Erinnerungen an seine Berührung. Wochenlang konnte sie ihn noch riechen und glaubte, verrückt zu werden, bis ihr klar wurde, dass die Vorhänge im Schlafzimmer, in deren Nähe er jeden Morgen sein Deo aufgesprüht hatte, den Duft noch immer in Wogen verströmten. Sie nahm die Vorhänge auf der Stelle ab, um sie zu waschen, hockte dann aber zwanzig Minuten lang vor der offenen Waschmaschinentür, wiegte sich vor und zurück und begrub das tränenüberström te Gesicht in dem staubigen Stoff.
Nachdem Leah sich von Sam verabschiedet hatte, ging sie nach Hause, packte einen kleinen Koffer, legte ihn auf den Rücksitz ihres Wagens und schloss sich dem Stau in Richtung M4 an. Als sie endlich freie Fahrt hatte, brauchte sie nur eine Stunde bis zur richtigen Ausfahrt, und aus irgendeinem Grund war Leah enttäuscht. Ihre große Reise fort von der
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