Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
sich schon besser, und kurz darauf platzte Sam zur Tür herein. Sie bewegte sich mit ihrer gewohnten Hast, ganz Ellbogen und Knie, und als sie Leah entdeckte, schüttelte sie in vorauseilender Entschuldigung den Kopf.
»Tut mir so leid, dass ich zu spät komme! Ich konnte nicht früher weg – Abigail macht diese Woche richtig Terror und führt sich furchtbar auf. Alle wissen natürlich, warum sie so biestig ist, aber das können wir schlecht laut sagen. Sie tut so, als läge es an den Quartalszahlen, die ihr nicht gut genug sind. Tut mir leid!«, sprudelte sie atemlos hervor, küsste Leah auf die Wange und umarmte sie kurz.
»Hör auf, dich zu entschuldigen!«, entgegnete Leah. »Ich rechne prinzipiell damit, dass du zu spät kommst. Und du weißt doch, dass es mir noch nie etwas ausgemacht hat, herumzusitzen und Leute zu beobachten.« Sie kannte Sam seit der ersten Klasse, und in all den Jahren war die Freundin nicht ein einziges Mal pünktlich zu einer Verabredung erschienen.
»Also, was hast du Wichtiges zu verkünden – ich sterbe vor Neugier«, sagte Sam, strich sich eine glänzende Strähne hinters Ohr und faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. Ihr Gesichtsausdruck war offen, doch ihr Blick huschte über Leahs Gesicht, nie fest auf einen Punkt gerichtet, ständig durch irgendetwas abgelenkt.
»Na ja, vielleicht habe ich auch zu viel Wind darum gemacht. Eigentlich ist es gar keine so große Sache«, sagte Leah und holte tief Luft. Die Entscheidung war ihr nur so gewaltig erschienen, als sie sie getroffen hatte. Es war eben sehr lange her, seit sie sich das letzte Mal für irgendetwas hatte begeistern können – seit sie den enthusiastischen Drang verspürt hatte, zu arbeiten und zu schreiben. Jetzt, wo sie darüber sprach, klang die ganze Sache irgendwie unspektakulär. »Ich werde eine Weile verreisen. Nur ein paar Wochen. Ich bin einer Story auf der Spur.« Sie sah die leichte Enttäuschung in Sams Gesicht und setzte entschuldigend hinzu: »Wusste ich doch, dass ich zu viel Wind darum gemacht habe.«
»Nein! Ich … ich dachte nur, es ginge um etwas anderes. Ich dachte, du hättest vielleicht jemanden kennengelernt«, sagte Sam und wedelte dann mit der Hand, als sie Leahs bedrückte Miene bemerkte. »Vergiss, dass ich das gesagt habe. Nein, das sind doch tolle Neuigkeiten. Freut mich für dich – weiß Gott höchste Zeit, dass du wieder in Schwung kommst. Also, was ist das für eine Story?«
»Es geht um … äh … die Identität eines Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg. Seine Leiche wurde eben erst drüben in Belgien entdeckt. Aber ich bin sicher, dass da noch mehr dran ist.«
»Daran, wie er entdeckt wurde?«, fragte Sam verwirrt.
»Nein – daran, wer er ist und was er im Krieg getan hat. Und vor allem in seinem Leben davor. Er hatte zwei Briefe bei sich, die erhalten geblieben sind – das ist an sich schon erstaunlich. Sehr alte Briefe. Am besten liest du sie vielleicht selbst?«, schlug sie vor und fischte die zerknitterten Seiten aus ihrer Handtasche.
Sie hatte sie selbst unzählige Male gelesen, seit sie Ryan in seinem dunklen, kleinen Zimmer zurückgelassen hatte, in Bettwäsche, an der noch ihr Geruch haftete. Diese Briefe hatten etwas so Lebendiges – sie konnte die Angst und Verzweiflung der Frau beinahe spüren, als stiegen sie wie ein Duft von der eleganten Handschrift auf: ihre Verwirrung, die Frustration, nichts ändern und nichts erfahren zu können. Und der seltsame Ton der Briefe wunderte sie. Offensichtlich waren diese Frau und der Soldat an etwas sehr Ungewöhnlichem, zutiefst Erschütterndem beteiligt gewesen: diesem Verbrechen , an dem die Frau sich mitschuldig fühlte, weil sie schwieg. Dennoch schrieb sie ihm so förmlich wie einem entfernten Bekannten. Nicht so, wie sie sich einem guten Freund oder nahen Verwandten gegenüber ausge drückt hätte. Das eindringliche Flehen, mit dem sie um eine Erklärung bat, um mehr Informationen … Inzwischen stieg in Leah selbst eine Art mitfühlende Panik auf, wann immer sie die Briefe zur Hand nahm. Und warum hatte der Soldat gerade diese beiden Briefe aufbewahrt, obwohl es anschei nend viele weitere gegeben hatte? Leah versuchte immer wieder, eine Gemeinsamkeit darin zu entdecken, konnte aber nichts finden – bis auf das Flehen natürlich, die verzweifelten Hilferufe. Aber die hatten doch bestimmt auch in ihren anderen Briefen an ihn gestanden?
»Könnte es sein, dass du da zu viel hineininterpretierst?«, bemerkte Sam,
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