Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
Stadt, ihre Mission, schien viel weniger bedeutsam dadurch, dass England so klein sein konnte. Ihr Naviga tionssystem führte sie von der Hauptstraße ab auf eine schmale, gewundene Landstraße zwischen hohen Hecken, die noch winterlich braun und trübselig waren. Es hatte geregnet, und sie rumpelte durch Schlaglöcher, die voller Wasser standen, und musste sich dreimal auf die matschige Böschung quetschen, damit riesige Geländewagen an ihr vorbeidonnern konnten. Als ihr Navi verkündete, sie habe ihr Ziel erreicht, stand sie an einer Kreuzung vor einer kleinen, dreieckigen Grünfläche, flankiert von niedlichen, schiefen Häuschen. Sie sah eine große Kastanie in der Mitte des Dorfangers, einen Briefkasten an einer und eine Telefonzelle an der anderen Ecke und keinerlei Anzeichen von Leben. Über den Dächern der Häuser auf der anderen Seite ragte ein Kirchturm vor dem fleckig grauen Himmel auf, und ein Gefühl von Erregung packte Leah. Falls der tote Soldat mit den Bewohnern des Pfarrhauses befreundet gewesen war, hatte er höchstwahrscheinlich in eben dieser Kirche den Gottesdienst besucht. Sie parkte den Wagen und machte sich zu Fuß auf den Weg dorthin. Es war vollkommen still, und sie ging beinahe auf Zehenspitzen, um die Ruhe nicht zu stören. Eine sanfte, feuchte Brise strich durch die kahle Rosskastanie und ließ die knotigen Zweige sacht aneinanderschlagen.
Der Friedhof war mit Schneeglöckchen, frühen Narzissen und kleinen lila Krokussen gesprenkelt. Die Toten des Dorfes lagen unter ihren Grabsteinen versammelt – die ältesten Steine, verwittert und von Flechten überzogen, standen am dichtesten bei der Kirche. Von dort aus ging es vorwärts durch die Zeit bis hin zu ein paar ganz neuen Steinen. Die frisch aufgeworfene Erde war deutlich erkennbar, die Buchstaben im Marmor noch messerscharf gemeißelt. Aus irgendeinem Grund fühlte sich Leah nicht wohl bei ihrer Betrachtung – es erschien ihr wie eine zufällige Begegnung von Blicken in einem Umkleideraum, eine winzige, aber eindeutige Verletzung der Privatsphäre. Die Kirche selbst war aus grauem Stein und Feuerstein erbaut, anscheinend vik torianisch. Auf dem bescheidenen Kirchturm prangte ein verrosteter eiserner Hahn, der sich trotz der Brise nicht rührte. Die Tür war fest verschlossen. Daran flatterten und wellten sich an rostigen Reißzwecken befestigte pastellfarbene Handzettel, die Veranstaltungen der Gemeinde ankündigten. Leah drehte noch einmal an dem rostigen Türknauf und rüttelte ein bisschen daran, nur um ganz sicherzuge hen. Sie fuhr erschrocken zusammen, als hinter ihr jemand sprach.
»Das nützt nichts, Kind. Heutzutage ist immer abgeschlossen, außer am Wochenende«, sagte ein Mann mit grauem Haar und einem schweren Kugelbauch, der aus einer uralten Donkeyjacke hervorragte. Leah schnappte nach Luft.
»Oh, verstehe. Danke«, sagte sie und wischte sich die Hände am Hosenboden ab.
»Mrs. Buchanan hat den Schlüssel, drüben in Nummer vier am Anger. Aber ich glaube, um die Uhrzeit geht sie immer zu ihrem Yoga«, fuhr der Mann fort.
»Na ja, macht nichts. Danke noch mal.« Leah lächelte knapp und wartete darauf, dass der Mann weiterging. Er erwiderte ihr Lächeln, rührte sich aber nicht. Leah hatte eigentlich noch ein bisschen auf dem Friedhof herum schnüffeln wollen, vielleicht sogar nach Canning-Grabsteinen aus der entsprechenden Zeit suchen, doch der Mann machte keine Anstalten, sich weiter um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, was immer das auch sein mochte. »Könnten Sie mir vielleicht sagen, wie ich zum Pfarrhaus komme?«, fragte sie und unterdrückte ihre Gereiztheit.
»Gerne doch, gerne«, antwortete der Mann. »Sie gehen von hier links raus und geradeaus bis Brant’s Close, dauert nur eine Minute. Die geht links weg. Ist eine neue Straße, eine Sackgasse, mit vielen Häusern. Das Pfarrhaus ist die Nummer zwei, kommt gleich nach der Ecke. Sie können es gar nicht übersehen …« Er folgte ihr den Weg entlang, während er all das erklärte, und einen Moment lang glaubte Leah, er werde sich bis zum Pfarrhaus an ihre Fersen heften. Doch am Friedhofstor blieb er stehen.
»Vielen Dank!«, rief Leah und marschierte zielstrebig davon. Die unhöflichen, aber auch unaufdringlichen Londoner hatten doch etwas für sich, dachte sie. Der Mann legte beide Hände auf den Torpfosten und sah ihr nach.
Haus Nummer zwei war ein bescheidenes quadratisches Backsteingebäude mit einem gepflasterten Weg durch einen sehr
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