Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
geistesabwesend an der Nagelhaut eines Daumens herum. Mit einer hektischen Bewegung zog er sich plötzlich den Hut vom Kopf, und Leah fiel auf, dass sein Haar dringend gewaschen werden müsste und auch einen neuen Schnitt vertragen konnte. Der Mann war groß und schlank, und seine Kleidung saß so locker, als hätte er sie von jemand anderem geborgt oder kürzlich viel Gewicht verloren. Als sie zum Tisch zurückkehrte, schaute er zu ihr auf, der Blick in den blassgrauen Augen gleich wieder wachsam.
»Einer der Vorteile daran, mal aus London wegzukommen – man kann sich ein Bier leisten, ohne gleich einen Kleinkredit aufnehmen zu müssen«, bemerkte Leah und setzte sich. Der Mann reagierte nicht.
»Also, worüber wollen Sie sprechen? Über diese alberne Geschichte mit den Feen? Das war kurz vor dem Ersten Weltkrieg, wenn ich mich recht erinnere«, sagte er und nahm einen tiefen Zug aus seinem Glas. Leahs Puls be schleunigte leicht.
»Sicher, darüber würde ich gern mehr hören …« Sie machte eine einladende Pause, doch der Mann füllte sie nicht aus. »Ich weiß, dass Sie gewissermaßen inkognito sind, aber dürfte ich zumindest Ihren Namen erfahren?«, wagte sie einen Vorstoß.
»Entschuldigung, ja, natürlich. Verzeihung. Die letzten Monate waren … ziemlich schwierig für mich. Ich heiße Mark. Mark Canning«, sagte er. Leah lächelte, und Schmetterlinge flatterten in ihrem Bauch.
4
16. Juni 1911
Liebste Amelia,
ich will Dir von einem weiteren Neuankömmling in unserem stillen Haushalt berichten: Mister Robin Durrant ist nun unser Gast, der Theosoph. Da Dir dieser Begriff wahrscheinlich nicht bekannt ist, erlaube mir, ihn Dir zu erläutern – nicht, dass ich behaupten könnte, eine Expertin in Sachen Theosophie zu sein! Ich musste sie mir von Albert erklären lassen, und dabei habe ich die Hälfte nicht verstanden. Er beschreibt Theosophie als die Suche nach Weisheit und spiritueller Erleuchtung, durch welche die Theosophen sich von den Fesseln der körperlichen Existenz zu befreien und mit Wesen höherer spiritueller Ebenen in Kommunikation zu treten hoffen. Ich hatte ja geglaubt, dass wir ebendies durch das Gebet anstreben, doch offenbar verhält es sich hier ganz anders.
Albert hat Mr. Durrant vor etwa zwei Wochen in Newbury kennengelernt, wo dieser einen Vortrag über Naturgeister und ähnliche Erscheinungen hielt. Albert hat damals nicht viel darüber gesprochen, doch vor ein paar Tagen kam er von seinem Morgenspaziergang zurück in der festen Überzeugung, solch magischen Geschöpfen – die ich allerdings nicht so bezeichnen sollte – auf einer Wiese in der Nähe von Cold Ash Holt begegnet zu sein.
Ich muss sagen, dass die Auen hier um diese Jahreszeit wirklich bezaubernd sind. Sie bersten geradezu vor Leben, wilden Blumen und frischem Grün. Die Gräser wachsen so schnell, dass man ihnen beinahe dabei zuhören kann, wenn man innehält und ihnen lauscht! Falls die Natur tatsächlich ein körperliches spirituelles Wesen hervorbringen kann, dann wäre dies gewiss die perfekte Umgebung dafür. Doch ich kann nicht anders, als zu zweifeln. Es erscheint mir so außergewöhnlich – als wäre er nach Hause gekommen und hätte behauptet, ein Einhorn gesehen zu haben! Aber natürlich sagt er die Wahrheit, und als seine Frau muss ich ihm zur Seite stehen und seinem Urteilsvermögen trauen. Immerhin ist er ein Gelehrter und ein Mann Gottes. Derartiges kann ich von mir nicht behaupten.
Dieser junge Mann, Mr. Durrant, soll also am heutigen Vormittag eintreffen, nachdem Albert ihm von seinen Beobachtungen geschrieben hat. Er wird eine Weile bei uns bleiben – ich muss gestehen, dass ich von Albert nicht erfahren konnte, wie lange genau. Mrs. Bell ist in heller Aufregung wegen der Mittags- und Abendmahlzeiten für drei Personen, denn seit Langem musste sie nur für Albert und mich kochen. Was nur beweist, liebste Schwester, dass Du und mein lieber Schwager, von der süßen Ellie und John ganz zu schweigen, uns längst einmal wieder hättet besuchen sollen. Lass mich nur wissen, wann Ihr kommt – Eure Zimmer sind jederzeit für Euch bereit. Falls er eine Weile bleiben sollte, dieser Mr. Durrant, so hoffe ich doch, dass er ein angenehmer Mensch ist und nicht allzu vornehm, klug und gelehrt, denn sonst weiß ich nicht, wie ich mich mit ihm unterhalten sollte, ohne ihm unsäglich albern zu erscheinen!
Was ich nun schreibe, wird Dich gewiss zum Lachen bringen – aber bitte lach nicht, denn es ist mir ganz
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