Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
tragen?«
»Während ihr euch innerhalb dieses Hauses aufhaltet, dürft ihr das nicht, nein«, erwiderte der Gentleman mit blitzenden Augen. Er hatte schon immer ein Faible für Ver handlungen gehabt.
»Emma darf ein Kruzifix tragen. Weshalb dürfen wir dann kein Symbol tragen?«
»Emma ist strenggläubig. Solltest du ebenfalls einen gekreuzigten Jesus tragen wollen, darfst du das selbstverständ lich gerne. Ich hoffe doch, du vergleichst Gott, unseren Herrn, nicht mit Mrs. Emmeline Pankhurst?« Er lächelte. Cat bemühte sich, keine Miene zu verziehen, konnte aber nicht verhindern, dass ihre Mundwinkel zuckten.
»Gewiss nicht. Denn wenn Gott eine Frau wäre, müssten wir sicher nicht so hart um unsere Grundrechte kämpfen«, erwiderte sie.
»Wenn Gott eine Frau wäre! Wenn Gott eine Frau wäre!« Der Gentleman lachte. »Catherine, du bist mir vielleicht eine. Ich hätte dich nie das Lesen lehren dürfen. Für Frauen gilt tatsächlich, dass die Halbgebildete schlimmer ist als die Unwissende!« Er gluckste vor Lachen. Cats Lächeln erlosch, und ihre Augen musterten ihn wieder kalt. Der Gentleman schwieg eine Weile. »Und diesen stechenden Blick deiner Mutter hast du obendrein. Fort mit euch zweien, geht an eure Arbeit.« Er entließ sie mit einer wedelnden Handbewegung. »Ich will nichts mehr davon hören.« Cat wandte sich zum Gehen und zog Tess an der Hand mit sich. Das Mädchen schien in eine Art Trance verfallen zu sein. »Warte, Catherine – hier. Lies das, wenn ich bitten darf. Vielleicht machen wir noch eine kluge Sozialistin aus dir, anstelle einer unflätigen Suffragette«, sagte der Gentleman und reichte ihr eine Handvoll Flugschriften der Fabian-Gesellschaft. Cat nahm sie begierig entgegen und las das Deckblatt des ersten Pamphlets: Abhandlung Nr. 144 – Die Mechanisierung: ihre Herren und Diener. Der Gentleman wusste, wie gern sie las – er hatte diese Liebe in ihr genährt.
»Danke sehr, Sir«, sagte sie aufrichtig erfreut. Er tätschelte beiläufig ihre Schulter und wandte sich dann ab.
Sobald sie wieder unten waren, stieß Tess einen gewaltigen Seufzer aus, als hätte sie während des gesamten Gesprächs den Atem angehalten.
»Oh, du lieber Gott, ich dachte schon, er wirft uns aus dem Haus, ja, wirklich!«, rief sie aus.
»Sei nicht albern – ich habe dir doch gesagt, dass er uns nicht hinauswerfen würde, oder?«, entgegnete Cat, nahm Tess bei den Oberarmen und schüttelte sie leicht. Tess wischte sich Tränen der Erleichterung aus den Augen und schaute sie an.
»Ich verstehe nicht, wie du es fertigbringst, so mit ihm zu sprechen! Du hast wirklich Nerven! Ich wäre beinahe gestorben vor Angst!«
»Du verstehst das nicht? Kannst du es nicht erraten?«, fragte Cat ernst.
»Was denn erraten, Cat? Was meinst du damit?«, fragte Tess verwirrt. Über die Schulter ihrer Freundin hinweg sah Cat Mrs. Heddingly im Schatten ihrer offenen Zimmertür stehen. Die Haushälterin beobachtete sie mit tadelnder Miene.
»Ach, nichts. Komm, wir gehen lieber wieder an die Arbeit«, sagte sie.
Nach diesem Vorfall verteilten sie ein paar Wochen lang keine Flugblätter mehr. Und als sie schließlich wieder damit anfingen, achteten sie darauf, nicht einmal in die Nähe der Geschäfte zu kommen, in denen Barnie seine Zigaretten oder Streichhölzer kaufte.
Hester findet Cat am Kopf der Kellertreppe, erstarrt und wie in einem Traum gefangen. Ihre Reglosigkeit ist erschreckend, und einen Augenblick lang zögert Hester unsicher. Schließlich räuspert sie sich vielsagend und sieht das Mädchen zusammenfahren.
»Ah, Cat. Würdest du mich bitte in den Salon begleiten? Ich möchte dich sprechen«, sagt sie und macht sich auf den Weg. Das dunkelhaarige Mädchen folgt ihr.
»Madam?«, sagt Cat, bleibt im Salon vor Hester stehen und lässt die Arme an den Seiten herabhängen. Hester wünschte, Cat würde die Hände geschlossen vor sich oder im Rücken halten, weiß aber nicht, wie sie ein solches Anliegen vorbringen soll. Es erscheint ihr nur so unnatürlich, die Hände derart herabhängen zu lassen. Als rechne Cat damit, sie in einem plötzlichen Kampf einsetzen zu müssen.
»Cat.« Hester lächelt. »Nun, Mrs. Bell hat die milde Beschwerde geäußert, dass du ihr nicht immer mit dem angemessenen Respekt begegnest – nein, bitte lass mich ausreden«, sagt sie, als Cat Anstalten macht, zu widersprechen. »Offenbar hast du eine Weile gebraucht, um dich hier einzugewöhnen, und das ist ganz verständlich, nachdem …
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