Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
nannte er sie nur noch »die Sapphos«, und sein Begehren schlug in Bosheit um.
Die Neuigkeit, was das Stubenmädchen und die zweite Küchenmagd in ihrer Freizeit trieben, gelangte von Barnie zur Haushälterin, dann zum Butler und schließlich zum Gentleman. Er ließ die beiden in seinem Arbeitszimmer antreten. Tess bebte vom Lockenkopf bis zu den abgewetzten Schuhsohlen, doch Cat drückte ihre Hand und reckte trotzig das Kinn. Sie wusste, dass sie nicht so leicht entlassen werden konnte. Das hatte ihre Mutter ihr noch gesagt, bevor sie gestorben war.
»Nun, Catherine und Teresa«, begann der Gentleman. Als Tess ihren Namen hörte, begann sie noch heftiger zu zittern, als hätte sie bis zu jenem Moment halb gehofft, übersehen zu werden. Cat begegnete dem Blick des Gentleman und weigerte sich, die Augen niederzuschlagen, obwohl sie dazu all ihren Mut zusammennehmen musste. Das Studierzimmer war ein imposanter, von zahllosen Büchern gesäumter Raum, die Wände in dunklem Mahagoni getäfelt, weinrote Teppiche auf dem Boden. Eine schwächliche Herbstsonne warf ihr Licht durch die hohen Fenster, sodass der Raum beinahe an das Innere einer Kirche erinnerte. Die stille, staubige Luft war kühl und unbewegt. Der Gentleman war über sechzig, groß, breit und kräftig gebaut. Ein grauer Backenbart verbarg die Kieferpartie, deren Konturen längst unter erschlaffter Haut verschwammen. Seine Augen waren zwar klein, aber fröhlich und gütig. Außer natürlich, wenn er getrunken oder gespielt hatte. Beides beherrschte er bekanntermaßen schlecht. »Wie ich höre, seid ihr beide unter die Politikaster gegangen«, sagte er und schaute sie dabei mit einem Ausdruck an, als amüsierte ihn diese Vorstellung.
»Ich weiß nicht, was Sie damit meinen, Sir«, erwiderte Cat zaudernd. Tess stierte den Fußboden an, so still wie ein Grab, abgesehen vom Flattern ihres angstvollen Atmens.
»Nicht doch, Catherine, spiel mir nicht die unwissende Dienstmagd vor – das nehme ich dir nicht ab«, tadelte er sie. Cat blinzelte und ließ ihren stählernen Blick ein wenig weicher werden, als sie erkannte, dass er ihnen wohl keine Standpauke halten würde.
»Wir haben nichts Böses getan. Der Sonntagnachmittag ist unsere freie Zeit. Es ist kein Verbrechen, sich einer politischen Vereinigung oder Partei anzuschließen und für sie zu werben.«
»Meiner Auffassung nach habt ihr an den Sonntagnachmittagen frei, damit ihr Verwandte besuchen, nähen oder lesen oder etwas ähnlich Nützliches tun könnt«, entgegnete der Gentleman milde.
»Die Sonntagnachmittage sind unsere Zeit«, erwiderte Cat störrisch.
»Catherine! Du bist wahrhaftig genauso starrsinnig wie deine Mutter.« Er lachte leise.
»Danke sehr, Sir«, entgegnete Cat mit dem Anflug eines Lächelns. Der Gentleman nahm seine Brille ab und legte sie auf das offene Wirtschaftsbuch vor ihm. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme und schien eine Weile zu überlegen. Die Mädchen blieben stehen, stramm wie Wachsoldaten.
»Nun, wie du ganz richtig sagtest, ist es kein Verbrechen, Flugblätter zu verteilen und so weiter. Ich nehme doch an, dass ihr für diese Tätigkeit keine Bezahlung erhaltet? Gut. Aber man kann heutzutage keine Zeitung mehr in die Hand nehmen, ohne von einem weiteren Mädchen zu lesen, das wegen irgendeiner Albernheit in Verbindung mit diesen aufrührerischen Blaustrümpfen verhaftet wurde. Sie gehen zu weit. Widernatürliche Kreaturen – äußerst unweiblich, diese Umtriebe. Doch ich halte nichts davon, das freie Denken zu verbieten, nicht einmal meinen eigenen Dienstboten. Macht also meinetwegen damit weiter, wenn es denn sein muss. Aber ich will nicht noch einmal hören, dass ihr euch auf der Straße herumgetrieben, Parolen geschrien und aufrechte Bürger auf dem Wege zu deren eigenen politischen Versammlungen belästigt habt. Dass mir das nicht wieder vorkommt! Ich dulde es nicht, dass ihr dieses Haus mit derart ausfallendem Benehmen in Verruf bringt. Habt ihr mich verstanden?«
»Dürfen wir weiterhin zu den Versammlungen gehen?«, fragte Cat.
»Ihr dürft Mitglieder dieser Frauenrechtsorganisation bleiben und deren Versammlungen besuchen, jawohl. Ihr dürft meinetwegen auch deren Schriften lesen, aber lasst sie nirgendwo herumliegen, wo die anderen Dienstboten sie sehen könnten. Und ich will nicht hören, dass ihr die anderen Mädchen dazu ermuntert, euer neuestes Hobby zu teilen.«
»Dürfen wir ein kleines Abzeichen der Organisation
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