Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
dieser Welt überhaupt einen Platz habe«, murmelt Cat.
»Doch, den hast du. Und zwar hier, in dieser Küche, wo du mir jetzt helfen wirst, den Tee vorzubereiten.« Mrs. Bell wendet sich geschäftig wieder dem Herd zu.
Später hängt Cat Hesters Stickerei an die Wand ihres Schlaf zimmers, wo früher das Kruzifix gehangen hatte. Obwohl ihr jedes Mal heiß wird vor Ärger, wenn sie den Spruch darauf liest, gefällt ihr die kleine Tigerkatze, die sich zwischen den Kornblumen versteckt. Cat fühlt sich heute Nacht ein wenig leichtsinnig, beinahe unbekümmert. Sie wartet kaum ab, bis alle schlafen gegangen sind, ehe sie aus ihrem Zimmer schleicht, die Hintertreppe hinunter und hinaus auf den Hof. Mrs. Bell schnarcht noch nicht. Als Cat zum Haus aufblickt, brennt im Schlafzimmer Licht. Man könnte nach ihr klingeln, damit sie heiße Schokolade kocht oder ein Buch aus der Bibliothek holt. Bei dem Gedanken schlägt ihr Herz schneller. Doch sie will sich nicht drinnen festhalten lassen, will nicht überwacht werden. Soll die Pfarrersfrau doch merken, dass sie verschwunden ist, denkt Cat hitzköpfig. Sollen sie sie doch rauswerfen. Lieber auf der Straße stehen, als eine Gefangene sein. Die Nacht ist still und warm. Von den Flussauen dringt gelegentlich das kehlige Quaken eines Frosches herüber, das Sirren und Summen von Insekten. Die Luft duftet nach heißen Backsteinen, trockenem Gras und zartem Tau.
Auf leisen Sohlen geht Cat am Haus entlang und zu der kleinen Ansammlung von Nebengebäuden um den Hof – Holzlager, das Gärtnerhäuschen, Gewächshäuser und der Werkzeugschuppen. In Letzterem stellt der Pfarrer immer sein Fahrrad unter. Cat tastet im Dunkeln danach, flucht leise, als ihre forschenden Hände Dinge wackeln und klappern lassen, und dann tritt sie gegen einen Spaten, der umkippt und auf den Betonboden zu fallen droht. Im letzten Moment fängt sie ihn mit zitternden Händen auf. Sie ist erst ein einziges Mal Fahrrad gefahren – sie hatte sich in London eins vom Metzgerburschen geborgt, um eine Runde darauf zu drehen. Stumm verflucht sie die leise quietschenden Räder, während sie es den Pfad durch den Garten entlang und dann zum Tor hinaus schiebt. Sie sieht nicht, dass hinter ihr in der Dunkelheit die Spitze einer Zigarette erglüht und Robin Durrant, der an der Fassade des Hauses lehnt und blaue Rauchwolken in den milden Himmel pustet, ihr nachschaut.
Cat schiebt das Fahrrad ein gutes Stück die Straße entlang, ehe sie aufsteigt, für den Fall, dass sie stürzen sollte. Und sie stürzt tatsächlich, so verblüfft über die rasche Vorwärtsbewegung, dass sie zu lenken vergisst, schlingernd ins Gras am Straßenrand gerät und dort scheppernd umkippt. Sie wischt sich Staub und Steinchen von den zerschrammten Händen und einem Knie, hebt das Rad auf, rafft die Röcke und schwingt erneut ein Bein über den Sattel. Sie wird nicht bei etwas versagen, das selbst dem Pfarrer so leicht gelingt, mit seinen zu kurzen Hosen und seinem mädchenhaft weichen Gesicht. Allmählich kommt sie in Schwung und stellt fest, dass es immer leichter wird, sich aufrecht zu halten und geradeaus zu lenken, je schneller sie fährt. Obwohl sie ein paar weitere Male nur knapp einen Sturz vermeiden kann, kommt sie gut voran und erreicht auf dem Pfad durch die Wiese schon bald den Kanal. Der helle, staubige Treidel pfad verläuft schnurgerade und ist als Schneise zwischen dunklen Binsen und Wiesenkerbel, Disteln, Ampfer und Löwenzahn gut zu erkennen. Cat tritt in die Pedale, so schnell sie sich traut. Der Wind streicht wie mit Fingern durch ihr kurzes Haar, lässt ihre Augen tränen und kühlt ihre Haut. Ein Grinsen stiehlt sich in der Dunkelheit auf ihr Gesicht, aufgeregt und unbekümmert. Sie wäre einfach an dem Kahn vorbeigefahren, auf dem George nachts schläft, um ihn in Thatcham zu suchen. Doch in der Kabine brennt Licht, also bleibt sie ruckelnd stehen.
Als Cat so plötzlich anhält, wird ihr schwindelig, und sie bleibt eine Weile auf dem Pfad stehen, bis sie zu Atem kommt und wieder sicher auf beiden Beinen steht. Das Wasser des Kanals ruht schweigend neben ihr, und im schwachen Schein der Sterne sieht sie Wasservögel lautlos vorübergleiten. Cat streckt sich vom Ufer zum Boot und klopft sacht gegen den Rumpf. Abblätternde Farbe bleibt an ihren Fingerknöcheln kleben. Von drinnen ist ein Poltern zu hören, das Scharren von Stiefeln auf Holz. George öffnet die Kabinentür und hält eine Lampe hoch, deren Licht Cat so
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