Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
gleichgültig, dass die Kabine so klein und die Decke so tief ist. Sie bemerkt es nicht einmal.
Am Sonntag steht Hester nach dem Gottesdienst neben Albert vor der Kirche, um jedes Gemeindemitglied höflich zu verabschieden. Die Sonne strahlt feurig vom reinen, blauen Himmel. Das Licht ist so klar, dass es jeden Grashalm auf dem Friedhof deutlich hervorhebt, jedes glitzernde mineralische Körnchen in den Granitsteinen. Es schimmert auf Robin Durrants leicht zerzaustem Schopf und enthüllt dort goldene und rostrote Strähnen, die Hester zuvor nicht aufgefallen waren. Eine Hand auf ihrem Arm fordert ihre Aufmerksamkeit.
»Ist das euer Hausgast?«, fragt Claire Higgins so leise, dass der Pfarrer sie nicht hören kann. Das Sonnenlicht schmeichelt Claires Gesicht nicht gerade – es bringt feine Härchen auf ihrer Oberlippe zum Vorschein und ein Ansammlung von Mitessern auf ihrer sonst recht hübschen Nase. Hester sorgt sich plötzlich darum, wie viele ihrer eigenen Makel wohl ebenso auffallend sichtbar sein mögen.
»Ja. Das ist Mr. Robin Durrant, der Theosoph. Albert und er studieren die spirituelle Seite unserer Flussauen«, erwidert Hester flüsternd. Claire mustert Robin von den Füßen auf wärts bis zum Gesicht. Ihre Miene drückt interessiertes Wohlgefallen aus und macht Hester ein wenig nervös.
»Ist er verheiratet?«, fragt Claire, ohne den Blick von ihm abzuwenden, während sie langsam über das seidige Ende ihres grünen Hutbandes streicht.
»Nein, meine Liebe, aber du«, entgegnet Hester. Sie wirft ihrer Freundin mit hochgezogenen Augenbrauen einen tadelnden Blick zu, und die beiden müssen lachen.
»Stell mich ihm vor«, zischt Claire, als Robin zu ihnen herübergeschlendert kommt.
»Meine Damen, darf ich Sie zurück ins Dorf begleiten?« Er lächelt sie an und verschränkt weltmännisch die Hände im Rücken.
»Mr. Durrant, darf ich Ihnen meine liebe Freundin Mrs. Claire Higgins vorstellen?«
»Mrs. Higgins, es ist mir ein Vergnügen«, sagt Robin und drückt ihr gut gelaunt die Hand.
»Ich hoffe doch, die neugierigen Blicke, die während des Gottesdienstes auf Sie gerichtet waren, haben Sie nicht abgeschreckt, Mr. Durrant«, sagt Claire. »Ich fürchte, wir bekommen hier in Cold Ash Holt viel zu selten berühmten Besuch. Und gewiss niemand so Aufregenden wie einen Spiritisten.« Die drei wenden sich von der Kirche ab und spazieren den Kiesweg zum Tor entlang.
»Nun, da muss ich Sie leider enttäuschen, Mrs. Higgins, denn ich bin weder sonderlich berühmt noch ein Spiritist.«
»Ach? Ist ein Theosoph denn so viel anders als ein Spiritist?«, fragt Claire.
»Allerdings, Mrs. Higgins. Ganz anders.«
»Wissen Sie, wir haben erst neulich Abend eine Séance mit einer Spiritistin hier aus der Gegend abgehalten. Aber erzählen Sie das nicht dem Pfarrer, sonst bringen Sie Hester in Schwie rigkeiten!«, bemerkt Claire in verschwörerischem Tonfall.
»Claire!«, protestiert Hester, doch Robin lächelt sie so herzlich an, dass sie sich gleich wieder entspannt.
»Keine Sorge, Ihr Geheimnis ist bei mir sicher«, sagt er. Claire strahlt ihn an und drückt kräftig Hesters Arm. »Aber dürfte ich Ihnen auf diesem Gebiet zur Vorsicht raten?«, fährt Robin fort. »Ich fürchte, die meisten Medien , wie sie sich selbst bezeichnen, sind schlicht Betrüger.«
»Oh, aber doch nicht Mrs. Dunthorpe?«, ruft Claire aus. »Sie kann über die materielle Welt hinausschauen und in die Geisterwelt blicken. Wir haben es beide selbst erlebt, nicht wahr, Hester? Ich bin überzeugt davon, dass ihre Fähigkeiten echt sind.«
»Und ich nehme an, sie spricht mit Verstorbenen?«, fragt Robin ernst.
»Nun ja, das tut sie«, antwortet Hester ein wenig zögerlich. »Allerdings habe ich nie einen dieser Geister, mit denen sie spricht, tatsächlich gesehen oder gehört …«
»Dann befürchte ich, dass Sie, wie so viele andere, von dieser Frau hereingelegt wurden.« Robin schüttelt den Kopf. »So etwas wie Geister von Toten gibt es gar nicht – jedenfalls nicht so, wie solche Jahrmarkt-Medien sie darstellen.« Er winkt verächtlich ab. »Wenn der Körper stirbt, verschmilzt das individuelle Bewusstsein des Menschen wieder mit der universellen Seele und wartet in Seligkeit darauf, eines Tages wiedergeboren zu werden. Die Persönlichkeit des Toten ist verloren, was bedeutet, dass es Geister mit jeglichem Wissen über ihr vorheriges Leben gar nicht geben kann «, erläutert er.
»Ach, tatsächlich? Und sie kam mir immer so
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