Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
Fingerabdrücken umgeben, ein hoher Bücherstapel neben dem Bett umgekippt und die zerwühlten Decken und Laken halb zu Boden gerutscht. Eines der Kopfkissen wurde aus seiner Hülle gezogen. »Herrgott im Himmel, hat er hier drin einen kleinen Wutanfall bekommen?«, brummt Cat und beginnt die Kleider aufzuheben, auszuschütteln und ordentlich in den Schrank zu hängen. Sie macht das Bett, sortiert die Schuhe und stellt ein schmutzverkrustetes Paar neben die Tür, um es zum Putzen mit hinunterzunehmen. Sie stapelt die Bücher wieder auf, und dabei fällt ein Briefumschlag aus dem Haufen.
Cat hebt ihn auf, und die Adresse sticht ihr ins Auge. Mr. Robin Durrant, The Queen’s Hotel, Newbury. Hat er also in einem Hotel gewohnt, ehe er ins Pfarrhaus kam? Ohne zu zögern öffnet Cat den Umschlag und zieht vorsichtig mit zwei Fingerspitzen den Brief heraus. Das Papier ist glatt und teuer, die Tinte tiefschwarz; das Datum liegt zwei Wochen zurück.
Lieber Robin,
ich fürchte, der Inhalt dieses Briefes wird Dich nicht erfreuen, doch nach langen Diskussionen sind Deine Mutter und ich übereingekommen, dass mein Vorschlag wahrhaftig zu Deinem Besten ist. Natürlich liegst Du uns am Herzen, Deiner Mutter vielleicht sogar zu sehr – sie vergöttert Dich und würde Dir niemals etwas verweigern. Zuweilen frage ich mich, inwieweit Dir diese Tatsache bewusst ist und ob Du ihre Zuneigung nicht gelegentlich zu Deinem Vorteil nutzt. Vielleicht wäre das nur natürlich, vielleicht haben wir bei Deiner Erziehung Fehler gemacht. Wie dem auch sei, es ist an der Zeit, dass Du auf eigenen Füßen stehst. Diese Theosophie wird Dich in der Welt nicht weiterbringen, Robin. Ich lege Dir nicht nahe, sie aufzugeben – betreibe sie weiterhin als Hobby, wenn Du möchtest. Als berufliche Laufbahn jedoch ist sie völlig ungeeignet. Du musst Dich auf etwas verlegen, das Dir Aussichten bietet, etwas, wodurch Du Dir einen Namen machen und ein Vermögen erwerben kannst. Nimm Dir ein Beispiel an Deinen Brüdern – in der Medizin und beim Militär. Sie schaffen sich ihren Platz in der Welt. Damit will ich nicht sagen, dass Du ebenfalls die medizinische Laufbahn hättest einschlagen sollen, denn Du hast einfach nicht Johns lerneifrigen Kopf zum Studieren. Doch ich bitte Dich erneut, das Militär in Betracht zu ziehen. Ich – wir – sind davon überzeugt, dass die Disziplin und Ordnung Dir helfen würden, ruhiger zu werden. Und immerhin würdest Du damit in meine Fußstapfen treten. Aber selbst wenn Du weiterhin darauf bestehen solltest, dass die Armee nicht der richtige Weg für Dich ist: Ich bestehe darauf, dass Du irgendeinen Weg findest – einen lohnenden Weg. Und obgleich es mich schmerzt, dies niederzuschreiben, lehne ich Deine letzte Bitte um finanzielle Unterstützung hiermit ab. Ich kann Dir nicht guten Gewissens noch mehr Geld zukommen lassen, wenn ich Dir damit ermögliche, Dich noch länger um einen ordentlichen Beruf herumzudrücken. Ich weiß, dass Du das Zeug dazu hast, es sehr weit zu bringen, genau wie Deine Brüder, und dabei will ich Dir gerne helfen. Ich bin gewiss, dass Du uns letztendlich nicht enttäuschen, sondern doch noch mit Stolz erfüllen wirst.
Hoffe, Dir geht es gut.
Mit väterlichen Grüßen
W.E. Durrant
Als Cat den Brief zu Ende gelesen hat, faltet sie ihn sorgfältig wieder zusammen und steckt ihn zurück in den Umschlag. Dann schiebt sie ihn zwischen zwei Bücher und stapelt diese sorgfältig aufeinander, sodass von dem Umschlag nichts zu sehen ist. Sie denkt an Robert Durrants neuen Leinenmantel, die teure Kameratasche. Sie räumt seine feinen Schuhe auf, und ein Lächeln breitet sich dabei auf ihrem Gesicht aus.
Spät am Abend macht Cat sich wieder auf, um George bei der Brücke am Rande von Thatcham zu treffen. Vor den Silhouetten der Werfthallen erscheint er als Schemen, der sich nur durch die Bewegung eines Arms verrät, durch das orangerote Glimmen seiner Zigarette. Er zündet ein Streichholz an, und der Gesichtsausdruck, mit dem er sie begrüßt, wirkt besitzergreifend und schüchtern zugleich. Diese Miene lässt irgendetwas in Cat die Hand nach ihm ausstrecken, schiebt sie unwiderstehlich auf ihn zu. Es ist, als sei er ein Magnet, von dem sich das Eisen in ihrem Blut angezogen fühlt.
»Gehen wir also in den Ort?«, fragt sie und bleibt dicht neben ihm stehen, nah genug, um seine Wärme zu spüren und den leichten Geruch nach Sägespänen und Pferd an seiner Kleidung zu riechen. Er nimmt ihre
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