Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
damit auf Cat herab.
»Man nennt mich Cat, Madam«, erwidert Cat, der Mrs. Averys Art überhaupt nicht gefällt.
»Na, ich habe doch nicht mit dir gesprochen, Mädchen. Vorlautes Ding, nicht? Erst kürzlich aus London gekommen, und aus Gründen, über die man besser nicht spricht, soweit ich weiß«, erklärt Mrs. Avery ihrer Freundin. Zorn flammt in Cat auf. Sie hält die Teekanne vor sich hoch, setzt ein leeres Lächeln auf und lässt dazu den passenden ordinären Dialekt verlauten.
»Tee, Madam? Was vom besten britischen?«, zwitschert sie.
»Nein, danke«, faucht Mrs. Avery und zieht mit angewidert gerümpfter Nase von dannen.
»Hochmütige alte Ziege«, brummt Cat vor sich hin.
»Lächeln, meine Damen! Sehen Sie hierher!«, ruft ein Mann im braunen Leinenanzug und Melone ihnen zu. Er hat die Kamera auf seinem Stativ schussbereit auf das Erfrischungszelt gerichtet.
»Oh, der Mann von der Zeitung!«, sagt Hester. Cat tritt zum Eingang des Zeltes, noch immer die versilberte Teekanne in der Hand, mit der sie Mrs. Avery angepöbelt hat. Sie späht unter der muffigen Plane hervor, während die Pfarrersfrau und die anderen Damen des Ortes die Schultern straffen und ihre Sonnenschirme in reizendem Winkel neigen. Die Kamera gibt ein lautes Schnappgeräusch von sich.
»Und noch eines, wenn Sie die Güte hätten!«, ruft der Fotograf. »Bleiben Sie genau, wie Sie sind, und lächeln Sie, lächeln!« Cat starrt in die Kameralinse und zieht im hellen Sonnenschein ein finsteres Gesicht. Sie starrt mitten da hinein, als könnte sie mit ihrem bösen Blick die Aufnahme ruinieren. Die Damen vor ihr bilden ein Meer aus weißer Spitze und Rüschen und zarten, dünnen Schlei ern; sie lächeln geziert für die Aufnahme. Cat amüsiert sich bei dem Gedanken, dass sie im Hintergrund zu sehen sein wird, klein und dunkel und übellaunig. Sie kämpft gegen den Drang an, der Kamera die Zunge herauszustrecken.
Sie ist nicht nur deshalb so schlecht gelaunt, weil sie die heißeste und langweiligste Tätigkeit an diesem Tag verrichten muss. Obendrein wird sie keinen freien Augenblick haben, um das Fest selbst ein bisschen zu genießen, und wenn es vorbei und alles aufgeräumt und zusammengepackt ist, wird sie auch noch versuchen müssen, ihre tägliche Arbeit im Pfarrhaus irgendwie zu bewältigen. In der Votes for Women sind diese Woche prächtige Fotografien von der Krönungsparade der Bewegung abgedruckt, die eine Woche zuvor, am siebzehnten Juni, in London stattgefunden hat. Von Pferden gezogene Festwagen, geschmückt mit Girlanden, Bändern und Blumenkränzen in den Farben der WSPU ; Suffragetten aus ganz London in fantastischen Kostümen, als Libertas und Justitia und die vier Winkel des Britischen Weltreichs. Cat wünscht so sehr, sie wäre dabei gewesen und mit einer Girlande roter Englischer Rosen neben den weißen Pferden hergegangen. Sie wünscht, sie wäre ein Teil von etwas gewesen, das so prachtvoll, so schön und vor allem so bedeutend war. Sie beobachtet aus dem Teezelt heraus, wie die Männer des Ortes einen Wettbewerb im Tauziehen beginnen und die Frauen schwatzen und sich mit Kuchen vollstopfen. Der Mann, der sie gerade fotografiert hat, schlüpft direkt vor ihr ins Zelt.
»Guten Tag, Miss. Könnte ich rasch eine Tasse Tee trinken, im Vorbeigehen sozusagen?«, fragt er, legt seine schwere Kamera auf einem Tisch ab und zückt ein Taschentuch, mit dem er sich das Gesicht wischt.
»Aber natürlich, und ich gebe Ihnen ganz frischen, nicht den, der schon so lange dasteht, weil Sie den Tag auch mit Arbeit zubringen müssen«, antwortet Cat müde.
»Heißer als unter Satans Zehennägeln, nicht?« Der kleine Mann grinst. Er hat ein spitzes Gesicht, jungenhaft, aber wachsam wie ein kleines Raubtier. Auf Wangen und Kinn sprießt ein feiner Flaum hellbrauner Härchen.
»Allerdings, und kein bisschen kühler, wenn man neben diesem Teekessel steht, das kann ich Ihnen sagen.«
»Bekomme ich trotzdem noch etwas von dem frischen Tee, wenn ich gestehe, dass ich mit der Arbeit für heute fast fertig bin?«, fragt er. Cat tut so, als zögerte sie mit der Kanne über seiner Tasse, und der Mann grinst erneut.
»In welcher Zeitung erscheinen denn die Bilder?«, erkundigt sie sich.
»Im Thatcham Bulletin . Ich hatte gehofft, hier auch ein bisschen Klatsch für die Gesellschaftsseiten aufzuschnappen, aber alle sind furchtbar höflich und patriotisch. Mit anderen Worten, langweilig.« Er nimmt die Tasse von ihr entgegen und lässt sich
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