Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
hier oben kann man nichts von den Streitereien, den Lügen oder Kämpfen sehen. Nichts von Not und Elend. Das bleibt alles auf dem Boden, wie Matsch und Dreck. Es ist beinahe so, als wäre man weit draußen auf dem Meer. Findest du nicht?«, murmelt sie.
»Ich war noch nie draußen auf dem Meer.« George legt einen Arm um ihre Schultern.
»Ich auch nicht. Aber ich habe darüber gelesen.«
»Hier ist weit und breit keine Menschenseele. Außer dem alten Clement, der unter der Brücke schläft«, sagt George leise.
»Dann bin ich dir ja geradezu ausgeliefert.« Cat lächelt. Ihre gedämpften Stimmen klingen laut in der stillen Nacht. Im Baum neben ihnen rascheln hastige Flügelschläge, als Vögel aus ihrem Schlaf geweckt werden, und eine zarte Brise kühlt Cats Haut.
»Nein, Cat, ich bin dir ausgeliefert«, erwidert George. Ihre Küsse sind drängend, hastig. Cat zieht George das Hemd aus, fährt mit den Lippen seinen Oberkörper hinab und schmeckt Salz.
Anfangs ist George sehr zurückhaltend und berührt sie ganz vorsichtig, trotz der Begierde, die aus seinen Augen leuchtet. Schließlich sagt Cat: »Ich bin keine Invalidin, George Hobson.« Er fährt mit den Händen durch ihr kurzes Haar und zieht ihren Kopf zurück, um ihre Kehle zu küssen. Mit Leichtigkeit hebt er sie hoch, sodass sie auf seinem Schoß zu sitzen kommt, ganz nah an seinem Körper, und sie lieben sich, während sich durch die kühle Nachtluft die Härchen auf ihren Armen aufrichten.
Der Tag, an dem das Fest zu Ehren der Krönung von König George V. stattfinden soll, zieht wolkenlos herauf, und schon am Vormittag flimmert die Luft vor Hitze. Die Blätter der Buchen rollen sich ein wenig ein vor Trockenheit und zeigen ihre silbrige Unterseite. Die Musiker der Blaskapelle spielen mit hochroten Gesichtern und leiden in ihren feschen Uniformen. Auf der Wiese vor der Kirche hat man mehrere Zelte aufgebaut und die Seiten hochgerollt und festgebunden, damit sich die Luft darunter ein bisschen bewegen kann. Bunte Wimpel hängen an langen Schnüren rund um den Rasen und den Weg zur Kirche entlang, und Claire Higgins, die für die Blumenarrangements zuständig ist, hetzt besorgt von einem Strauß zum nächsten, während die Blüten in der Hitze welken.
»Claire, meine Liebe, ich fürchte, da kannst du nichts tun. Komm und trink ein Glas Limonade, ehe du noch in Ohnmacht fällst«, ruft Hester ihr zu.
»Wenn ich nur die Wicken in den Schatten unter den Baum stelle, halten sie sich vielleicht noch eine Stunde …«, protestiert Claire schrill und lässt sich nicht aufhalten.
»Nimm zumindest deinen Sonnenschirm mit!«, ruft Hester ihr nach und zieht sich dann in ein weißes Zelt zurück. »Cat! Was macht der Tee?« Hester schaut sie freundlich an. Cat steht schon den ganzen Vormittag lang in der Gluthitze des Erfrischungszeltes an einem kleinen Ofen, auf dem sie einen Kessel Wasser nach dem anderen kocht. Ihr Kleid ist im Rücken schweißnass, das Haar klebt ihr am Kopf, aber sie darf ihre Haube nicht abnehmen. Am Hals hat sie einen roten Fleck, wo George sie ein wenig zu heftig geküsst hat. Zum Glück ist ihr Haar inzwischen gerade lang genug, um ihn zu verdecken. Hastig streicht sie sich eine Strähne hinters Ohr.
»Der Tee ist längst fertig, Madam. Aber alle wollen Limonade. Es ist einfach zu heiß für Tee«, antwortet Cat tonlos.
»Unsinn! Ich finde Tee an einem heißen Tag äußerst erfrischend. Ja, ich hätte gerne gleich eine Tasse, bitte.«
Den ganzen Tag lang kocht Cat Tee und serviert ihn den Einwohnern von Cold Ash Holt. Hester und die anderen Frauen arrangieren Törtchen und Gebäck auf hübschen Eta geren und reichen Schälchen voll Erdbeeren mit Sahne. Kinder lecken in verzweifelter Hast an ihrem Wassereis, das binnen Sekunden schmilzt und ihnen die Arme bis zu den Ellbogen hinabrinnt. Derart gezuckert werden die Kleinen von überreizten Wespen kreuz und quer über die Wiese gejagt. Robin Durrant schlendert von einem Stand zum nächs ten, die Hände hinter dem Rücken verschränkt wie ein wohlwollender Ehrengast, gefolgt vom Pfarrer und einer kleinen Schar Männer und Frauen. Cat beobachtet ihn und wundert sich darüber, dass er die Leute in so kurzer Zeit derart beeindruckt hat.
»Das ist also das neue Mädchen der Cannings. Catherine, nicht wahr?«, bemerkt Mrs. Avery laut, als sie mit einigen Begleiterinnen am Tisch mit dem Tee vorübergeht. Sie hebt ihr Lorgnon an einem Stiel über den Rücken ihrer knochigen Nase und späht
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