Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
Pergament. Mrs. Bell tritt zurück und verschnauft einen Moment. Sie beäugt den Brunnenschacht mit finsterem Argwohn, beinahe so, als hätte sie Angst davor.
»Woher wusstest du überhaupt von diesem Brunnen?«, fragt sie schließlich.
»Ach, wissen Sie, ich habe mich eben … umgesehen«, antwortet Cat.
»Darauf möchte ich wetten. Eher herumgeschnüffelt, neh me ich an.« Mrs. Bell bleibt still stehen und beobachtet den Brunnen; sie macht keine Anstalten, mit auszupacken. Cat öffnet gerade den Mund, um sie um Hilfe zu bitten, als Sophie Bell sagt: »Ich kann da nicht näher heran, glaube ich. Nein, kann ich nicht. Nicht zu nahe, und reinschauen schon gar nicht.« Sie schaudert leicht und klemmt die Hände fest in die fleischigen Achselhöhlen.
»Aber warum denn nicht? Was gibt es da zu fürchten? Eine so füllige Frau wie Sie könnte doch gar nicht hineinfallen«, sagt Cat, die immer noch fleißig auspackt. Doch als sie aufblickt, sieht sie, dass die Haushälterin ganz blass geworden ist. Ihr Gesicht ist beinahe gelblich weiß, wie die Butter, die Cat in Händen hält. »Geht es Ihnen nicht gut?«, fragt sie sanfter.
»Ich habe in einem Brunnen meinen Walter verloren. Meistens versuche ich, nicht daran zu denken, wie man das eben so macht. Du weißt schon. Aber manchmal kann man eben nicht anders, als doch daran zu denken«, sagt Sophie Bell, und ihre Stimme klingt ungewohnt, viel dünner und leiser als sonst – tonlos und niedergeschlagen.
»Walter? Ich habe noch nie gehört, dass Sie ihn erwähnt haben. Wer ist Walter?«
»Mein kleiner Junge natürlich! Erst fünf war er, als ich ihn verloren habe.« Sophie Bell presst die Lippen fest zusammen, sodass ihr Kinn Dellen bekommt.
»Er ist in einen Brunnen gefallen?«, fragt Cat leise.
»Die größeren Jungen haben ihn herausgefordert – eine Art Mutprobe. Die kleinen Mistkerle. Sie hatten nichts Böses im Sinn, das weiß ich, aber damals hätte ich ihnen natürlich den Hals umdrehen können. Sie haben behauptet, er würde sich nie trauen, so weit am Seil runterzuklettern, dass er das Wasser berühren kann. Der dumme Junge hat es tatsächlich versucht – er wusste es ja nicht besser. Beinahe hat er es auch wieder nach draußen geschafft, haben sie hinterher erzählt, aber dann ist er am Seil abgerutscht und wieder reingefallen. Er hat sich den Kopf an der Wand gestoßen, und das war’s dann.« In der Stille nach Mrs. Bells Geschichte kommt ein Rotkehlchen angeflattert, um sie auszuspähen. Cat bricht ein Krümelchen Käse ab und wirft es vor den Vogel ins Gras.
»Das ist schrecklich, Sophie«, sagt sie leise, und mitfühlender Kummer schnürt ihr die Kehle zu. »Es tut mir sehr leid, das zu hören.«
»Ist bald zwanzig Jahre her, aber er fehlt mir immer noch. Nächste Woche hätte er Geburtstag gehabt. Er wäre jetzt kaum älter als du.«
»Waren Sie damals verheiratet?«
»Natürlich war ich verheiratet, Herrgott! Wir sind nicht alle so auf Skandale aus wie du, Cat Morley. Und als Nächstes willst du sicher wissen, was aus meinem Mann geworden ist. Tja, der ist mir dann an einem Tumor gestorben. Keine zwei Jahre, nachdem Walter in den Brunnen gefallen war. Kein großer Verlust für mich oder für die Menschheit, aber er hatte mir meinen Walter geschenkt, und dafür war ich ihm dankbar. Ein süßes Kind war er – so lieb und so fröhlich.«
»Ich hatte keine Ahnung, dass Sie einen solchen Verlust erlitten haben«, sagt Cat sanft. Am liebsten würde sie Sophies Hand nehmen, doch die Haushälterin hält die Arme fest verschränkt. »Es muss sehr hart für Sie gewesen sein, damit weiterzuleben. Kein Wunder, dass Sie so verbittert geworden sind.«
»Den ganzen Tag lang deine frechen Bemerkungen zu hören trägt nicht unerheblich zu meiner Verbitterung bei, junge Dame. Du hast die üble Angewohnheit, einfach alles auszusprechen, was dir in den Kopf kommt, weißt du das?«, erwidert Sophie.
»Ja, das hat man mir schon gesagt. Aber Sie hätten doch wieder heiraten und noch ein Kind bekommen können, nicht?«, fragt Cat. Mrs. Bell schüttelt traurig den Kopf.
»Nur ein Mädchen, das noch kein Kind geboren hat, könnte glauben, dass eins so leicht zu ersetzen wäre. Es bricht einem das Herz, ein Kind zu verlieren. Und außerdem haben die Männer nach einer wie mir nicht gerade Schlange gestanden. Wahrscheinlich war es da sowieso schon zu spät, um noch ein Kind zu bekommen, selbst wenn ich einen Mann gefunden hätte, der mir gefällt.«
»Ach, ich
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