Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
Horizont färbt sich dunkelviolett, und die üblichen Geräusche der Nacht sind gedämpft, wie erstickt. Cats Körper sehnt sich nach George, nach seinen schweren, ruhigen Händen.
»Ich habe am Abgrund des Todes gestanden. Ich habe genau hingeschaut. Und da war nichts«, sagt sie schließlich schroff.
»Du bist wirklich recht seltsam für ein Dienstmädchen«, wiederholt Robin.
»Sie essen kein Fleisch, aber Sie trinken Wein und Cognac, und Sie rauchen. Ich würde meinen, Sie sind recht seltsam für einen Theosophen.«
»Aber die Theosophische Gesellschaft besteht doch nicht aus Heiligen, Cat. Nur aus Sündern, die sich bemühen, bessere Menschen zu werden.« Cat verdreht leicht die Augen, löst sich von der Wand, verschränkt die Arme und geht zur Tür. »Doch nicht schon zu Bett? Willst du dich heute Abend denn gar nicht mit deinem Liebsten treffen?«, fragt Robin freundlich. Bei diesen Worten zögert Cat und wirft ihm einen besorgten, zornigen Blick zu. Sein Lächeln wirkt jetzt kälter, schärfer, und der wissende Ausdruck in seinen glitzernden Augen macht sie nervös. Robin zuckt allzu bei läufig mit den Schultern. »So etwas spricht sich herum. Aber keine Sorge. Dein Geheimnis ist bei mir sicher.« Sein Tonfall klingt betont lässig und straft seine Worte damit Lügen. Cat runzelt die Stirn und betritt das Haus. »Warte – möchtest du nicht noch etwas bleiben und dich mit mir unterhalten?«, fragt er. Da ist es wieder, dieses lässige, etwas träge, hinreißende Lächeln.
»Warum in aller Welt sollte ich das wollen?«, faucht Cat ihn an. Dann besinnt sie sich und zügelt ihre scharfe Zunge. »Gute Nacht, Sir«, sagt sie höflich und lässt ihn in der Dunkelheit stehen.
Am nächsten Morgen nimmt Cat den kleinen Stapel Briefe vom Postboten entgegen und arrangiert sie auf einem Silbertablett, um sie hinauf an den Frühstückstisch zu bringen. Da sticht ihr ihr eigener Name ins Auge. Er steht auf einem kleinen grauen Umschlag, in einer runden, kindlichen Hand schrift, die sie nicht erkennt. Der Poststempel ist aus Lon don. Cats Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Tess, denkt sie, lässt den Brief in die Schürzentasche gleiten und bringt hastig das Tablett hinauf an den Frühstückstisch. Sie stellt es recht unsanft vor dem Pfarrer auf den Tisch und zieht sich zurück, ohne Hesters höfliches Dankeslächeln zu bemerken oder Robin Durrants Blick, der ihr folgt. Sie schlüpft hinaus auf den Hof, reißt den Briefumschlag auf und starrt auf das helle Papier. Der Himmel ist mit weißen Wolken bedeckt, so dicht und einförmig, dass es den Anschein hat, als sei der Himmel heute zu müde für Blau. Doch der Brief ist nicht von Tess.
Liebe Cat,
ich schreibe dir weil ich weis das Mrs. Heddingly den Brief aufgemacht hat den wo du unserer Tess geschrieben hast. Die ist nicht mehr hier. Ich finde sie hätte ihn nicht aufmachen sollen weil sie hätte ihn auch weiterschicken können hat sie aber nicht. Wir haben alle Tess ihren Namen vorne drauf gesehen und später bin ich heimlich in Mrs. Heddinglys Zimmer gegangen und habe ihn mir angeschaut. Das war auch nicht richtig aber sie hat zuerst was falsch gemacht weil sie ihn aufgemacht hat. Ich habe ihn nicht gelesen ich schwörs nur geschaut von wem er war und mir aufgeschrieben wo du jetzt bist damit ich dir das schreiben kann. Tess mus jetzt im Armenhaus arbeiten. Frosham House heist es und es liegt an der Sidall Road in der Nähe von Soho. Was ich gehört habe gibt es schlimmere aber trotzdem ist es nicht gut da und die wo reingehen kommen dünn und schwach wieder raus oder gar nicht. Wir konnten ihr alle kein bisschen nicht helfen weil wir selber kein Geld haben was wir ihr geben könnten und sie keine Familie hat. Ich mus sagen das es falsch von Mrs. Heddingly war ihr deinen Brief nicht zu geben aber als es pasiert war hat sie ein gutes Wort für Tess eingelegt aber der Herr wollte nichts davon wisen. Frosham House erlaubt Besuche nur jeden dritten Sonntag im Monat am Nachmittag und sonst nie. Ich und Ellen waren letzten Monat da aber Tess wollte nicht rauskommen und mit uns reden. Ich hoffe dir geht es beser Cat. Hier ist es nicht wie früher ohne dich und Tess.
Von Suzanne
Im Armenhaus. Tess. Cat liest den Brief erneut, und das Herz wird ihr schwer wie Blei in der Brust. Sie schließt die Augen und ballt die Hand zur Faust, sodass das zerknitterte Papier in ihre Haut schneidet. Wie konnte er das tun? Der Gentleman mit seiner vorgetäuschten Gutmütigkeit und
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