Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
sei nen fortschrittlichen Ideen. Er muss gewusst haben, dass Tess sich ohne Cat im Haus still und brav betragen hätte. Er muss gewusst haben, dass ein Waisenmädchen, das seine Stelle verliert und kein Empfehlungsschreiben bekommt, nur zweierlei Möglichkeiten hat: entweder seinen Körper zu verkaufen oder ins Armenhaus zu gehen. Die Ungerechtigkeit brennt in Cats Kehle wie Galle. In diesem Augenblick hasst sie ihn, trotz allem. Tess, im Grunde noch ein Kind, vor eine solche Wahl zu stellen. Sie hätte sich nie als Hure durchbringen können. Sie hat Angst vor Männern und träumt im mer noch davon, dass sich eines Tages ein Prinz mit zärt lichen Händen und poetischer Seele in sie verlieben und sie ihrer goldenen Locken und ihres weichen, weißen Leibes wegen heiraten wird. Und wer weiß – vielleicht wäre das irgendwann sogar geschehen. Vielleicht eher ein Handwerker als ein Prinz, aber immerhin. Jetzt nicht mehr. Jetzt erwartet Tess nichts als endlose Schufterei und von Ratten angeknabbertes Brot, und der Gestank der hilflosen Alten und Kranken in ihren feuchten Kammern. Wie sehr Cat ihn hasst!
Als Cat vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen wurde, war ihr nicht klar, was das bedeutete: dass sie Tess nie wiedersehen würde. Cat war zu zwei Monaten verurteilt worden, wurde aber zehn Tage früher entlassen. Die schwere Infektion in ihrer Brust hatte sie fast aufgezehrt, ihre Haut spannte sich straff über die Knochen, ihr Haar war kurz geschoren worden, und ihre gesprungenen Lippen weinten Blutstrop fen, wenn sie sprach. Die WSPU schickte ein Empfangskomitee, das sie und zwei andere Mädchen abholte, die ebenfalls vorzeitig entlassen wurden, weil ihre Kräfte rasch schwanden und die Regierung keine Märtyrerinnen wollte. Man fuhr sie zu einem Versammlungssaal, wo ein großer Frühstücksempfang für sie stattfand und Lobreden auf ihre Tapferkeit gehalten wurden. Nur diese Ansprachen hielten Cat davon ab, vor Erleichterung und Schmerz laut zu schluch zen. Sie bewahrte die Fassung, indem sie kein Wort sagte – sie hielt die zerschundenen Lippen leicht zusammengepresst und murmelte nur einen kurzen Dank, als ihr die Holloway-Medaille an den Kragen gesteckt wurde.
Sie selbst konnte die Speisen nicht anrühren. Von den beiden anderen Mädchen knabberte das eine höflich an Sand wiches, Kuchen und Obst, während das andere so schnell und verzweifelt über das Essen herfiel, dass es würgen musste. Die Frauen drängten Cat zu essen, damit sie wieder zu Kräften kam. Sie brachten ihr sogar einen Becher Fleischbrühe, nachdem sie alles andere abgelehnt hatte. Cat probierte vorsichtig davon, konnte die Brühe aber nicht herunterschlucken und spuckte sie schließlich so unauffällig wie möglich wieder in den Becher. In einem prachtvollen, goldgerahmten Spiegel an einem Ende des Saals erhaschte sie einen Blick auf sich selbst. Ein bleiches Gespenst in Lumpen mit schorfigen Stellen um den Mund und blauen Flecken an Hals und Handgelenken. Ihre Kleider hingen lose an ihrem knochigen Körper herab, und wo ihre Kopfhaut nicht von einem Hut bedeckt wurde, hatte sie eine hässliche graue Farbe. Die Frauen des Empfangskomitees, die sich emsig um sie be mühten, sahen aus wie dralle, glänzende Vögel – wie dicke Rebhühner oder Tauben mit ihren üppigen Brüsten und den strahlenden, fröhlichen Augen. Cat starrte in den Spiegel und erkannte sich kaum wieder.
Später brachte man sie heim in die Broughton Street, und von dort fuhr der Gentleman auf der Stelle mit ihr zu seinem eigenen Arzt. Dies war das erste und einzige Mal, dass sie in seinem Automobil mitfuhr. Obwohl sie so benommen und erschöpft war, nahm sie die völlig neuartige Fortbewe gung in einem Wagen mit Selbstantrieb sehr wohl wahr. Erst später, als Tess noch immer ihre Strafe absaß und Cat erfuhr, dass man für sie selbst eine neue Stellung auf dem Land gefunden hatte, wurde ihr klar, dass sie ihre Freundin vielleicht nie wiedersehen würde, nichts wiedergutmachen konnte. Am Tag ihrer Abreise fuhr sie mit dem Bus zum Bahnhof Paddington. Mrs. Heddingly begleitete sie, um sich zu vergewissern, dass sie auch wirklich in den Zug stieg, während Cat Tränen über die Wangen strömten und ungehindert von ihrem Kinn tropften.
»Diesen Sonntag? Tut mir leid, Cat, aber das kommt nicht infrage«, sagt die Pfarrersfrau, als Cat ihre Bitte vorbringt. Hester Canning sitzt am Schreibtisch im Musikzimmer und arrangiert gepresste Veilchen, gelbe und indigoblaue
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