Das Haus der vergessenen Träume: Roman (German Edition)
Stiefmütterchen und rosaroten Phlox zu einem passenden Muster in ihrer Blumenpresse. Sie arbeitet rasch, denn in der Hitze des Tages beginnen die Blütenblätter bereits zu welken. Mehrere angerissene Veilchen hat sie schon beiseitegelegt.
»Aber sie lassen Besucher nur am dritten Sonntag des Monats ein. Das ist dieser Sonntag. Wenn ich diese Woche nicht hingehe, kann ich sie erst wieder in einem Monat besuchen, Madam …«
»Aber so kurzfristig, Cat, und morgen reist meine Schwester mit ihrer Familie an, da wirst du hier dringend gebraucht. Es tut mir wirklich leid, aber ich kann dir nicht freigeben. Ich verspreche dir, dass du deine Freundin nächsten Monat besuchen darfst. Wie wäre das? Den dritten Sonntag im August hast du dann ganz für dich, zum Ausgleich für den Nachmittag, den du diese Woche nicht freibekommst. Wenn du mit dem Frühzug in die Stadt fährst, kannst du viel Zeit mit deiner Freundin verbringen.« Hester lächelt fröhlich, als ginge es um einen vergnüglichen Ausflug. Sie schließt den hölzernen Deckel der Blumenpresse und dreht an den Schrauben. Die beiden Holzplatten werden immer fester zusammengedrückt, und die hilflosen Blumen, die dazwischen gefangen sind, werden platt gepresst und erstickt. Cat versucht, ruhig weiterzuatmen, doch sie hat das Gefühl, dass es ihr die Brust zusammenpresst, als drehe Hester zugleich auch an ihr Schrauben immer fester zu. Wie kann sie der Pfarrersfrau nur erklären, was ein Armenhaus in London bedeutet? Die Worte wollen sich nicht zu Sätzen verbinden, sondern verfangen sich in ihren verzweifelten Gedanken. In einem Monat könnte Tess schon verwelkt und verloren sein. Nicht unbedingt tot, doch das Licht in ihrem Inneren könnte erloschen, ihre Unschuld erstickt sein, ihre Seele zerdrückt wie diese Blütenblätter, aber ohne als hübsches Bild irgendwo erhalten zu bleiben. Cat hat Menschen gesehen, die aus dem Armenhaus freigekauft wurden. Sie kamen ihr vor wie bloße Hüllen. Hinter ihren Augen war nichts als hallende Leere und die Schatten von Kummer und Verzweiflung.
»Bitte«, versucht sie es noch einmal mit einer Stimme, die kaum mehr ist als ein Krächzen. »Es ist außerordentlich wichtig. Teresa ist eine sehr gute Freundin, und sie hat allein meinetwegen ihre Stellung verloren … Ich bin daran schuld. Ich muss sie besuchen. Ich muss ihr ein paar Sachen bringen, die sie in ihrer Not ein wenig trösten könnten …«, fleht sie.
»Cat, bitte. Genug davon. Ich bin sicher, dass für das Mädchen gut gesorgt wird. Immerhin sind die Armenhäuser für Menschen wie sie geschaffen worden – um ihnen Unterkunft und Verpflegung zu gewähren und eine Möglichkeit, sich diese Annehmlichkeiten zu verdienen. Sie wird nächsten Monat immer noch dort sein und sich gewiss genauso über deinen Besuch freuen, wie sie sich jetzt freuen würde. Es ist wirklich nur angemessen zu verlangen, dass du mich früher informierst, wenn du dir freinehmen willst. Das siehst du doch gewiss ein?« Hester lächelt flüchtig und ein wenig geistesabwesend. Annehmlichkeiten? Cat starrt sie verblüfft an. Glaubt diese Frau denn tatsächlich, dass in einer solchen Einrichtung irgendetwas angenehm ist? Sie bleibt ganz still stehen, kann sich einfach nicht rühren. Noch immer will sie kaum glauben, was sie eben gehört hat. Hester beschäftigt sich noch eine Weile mit ihrem Hobby und blickt dann mit einem Ausdruck leichten Unbehagens zu ihr auf. »Das wäre alles, Cat.«
Den restlichen stickigen Tag lang arbeitet Cat hart und schnell. Zornig schrubbt sie den Steinboden im Flur, bis sich eine dunkle Schweißspur auf dem Rücken ihrer Bluse abzeichnet. Die Laken zieht sie so heftig von den Betten, dass sie zu zerreißen drohen, und das Gemüse putzt sie in unachtsamer Hast. Dabei schneidet sie sich in den Daumen, merkt es aber erst, als Sophie Bell ihr über die Schulter späht und über die rot verschmierten Stangenbohnen schimpft.
»Was ist heute nur in dich gefahren?«, fragt die Haushälterin.
»Ich will fort!«, bringt Cat nur heraus, denn vor Frustration zittert ihre Stimme, und ihre Zunge ist wie gelähmt.
»Na, bei Gott, Mädchen, da ist die Tür«, brummt Sophie Bell. »Halt still!« Sie verbindet Cats Daumen mit einem sauberen Tuch und umwickelt es fest mit Bindfaden. Beinahe augenblicklich dringt rotes Blut durch den Stoff und entfaltet sich dort wie eine Rosenblüte. »Du hast dich böse geschnitten. Dummes Mädchen«, bemerkt Mrs. Bell, und für Cat sind diese Worte
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