Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
Gelegenheit gehabt, Monets berühmte Seerosen zu sehen«, sagte Wu zu Xie, Lan und den anderen acht Künstlern, die sich um ihn versammelt hatten. »Möchte jemand von euch mich begleiten?«
Die ganze Gruppe folgte ihm in den ersten der zwei großen ovalen Ausstellungsräume.
»Er hatte schon zu erblinden begonnen, als er diese Gemälde schuf«, erzählte Wu, als sie inmitten der Bilder standen, die ringsum die Wände zierten. »Sie sind eine Schenkungan die Stadt Paris, die im Austausch dieses Museum erbaute.«
Obwohl Xie nur allzu gut wusste, wozu er hier war und was ihm bevorstand, beeindruckte ihn die Kraft der Gemälde zutiefst. Zwei der Bilder waren zwei Meter hoch und über zehn Meter lang. Die anderen beiden halb so breit, aber ebenso hoch. In der Mitte des ovalen Raums fühlte sich Xie, als hätte er sich wahrhaftig in den Garten des Meisters verirrt. Die Menschen um ihn herum verschwanden. Er sah nur noch Blau- und Grüntöne, Lavendel und gedämpftes Rosa. Die abstrakten Bilder der Seerosenteiche und die Reflexionen des Himmels, der Blumen und Bäume darin erfüllten Xie mit einem solchen Zauber, dass er andächtig den Atem anhielt. Zum zweiten Mal, seit er in Paris war, kamen ihm die Tränen. Diese Gemälde waren der reine, perfekte Ausdruck der Schönheit der Natur. Es war, als stünde er mit dem Künstler, der vor fast neunzig Jahren gestorben war, in direktem Kontakt.
Xie wusste, dass er seiner Berufung als Panchen Lama folgen musste. Wenn er Glück hatte, würde er heute die Chance bekommen, sein Schicksal zu erfüllen. Doch er musste einen Weg finden, dass die Kunst auch ein Teil sein neuen Lebens bliebe. Seine Kalligraphien verblassten neben den Werken Monets, doch es ging in der Kunst nicht darum, sich mit anderen zu messen. Das hatte Cali ihm gesagt. Es ging um die Wirkung des kreativen Akts, um die machtvolle positive Energie, die er in den Kosmos entließ.
Ach, Cali. Wie viel es ihr bedeutet hätte, diese Gemälde zu sehen. Wie tief bewegt sie davon wäre. Xie würde sie so vermissen. War es das wirklich wert? Sie zu verlassen, seinen Lehrmeister und seine Arbeit?
»Wir gehen weiter«, sagte Lan. »Kommst du?«
»Ich komme nach.«
Lan ging voraus und ließ Xie in einem Raum voller Fremderzurück. So dachte er jedenfalls. Dann entdeckte er Ru Shan am anderen Ende des Raums. Der Pekinger Student schien voll und ganz in den Anblick der Gemälde versunken zu sein.
Xie bezweifelte jedoch, dass er überhaupt hinsah. Er war sicher, dass Ru Shan ihn allein im Auge behielt.
Dreiundfünfzig
9:56 UHR
Jac und Griffin verließen gemeinsam das Wohnhaus in der Rue des Saints-Pères. Es regnete. Sie spannten ihre Schirme auf und wandten sich ohne jede Eile nach links, in Richtung Seine.
Regentropfen wühlten die Oberfläche des Flusses auf, der eine stumpfe grünbraune Färbung angenommen hatte. Es herrschte reger Autoverkehr, doch auf dem breiten Uferboulevard waren wegen des Wetters nur wenige Passanten unterwegs.
»Hast du den Polizisten gesehen?«, fragte Jac Griffin. »Ja.«
Um die Polizei machten sie sich heute Morgen jedoch am wenigsten Gedanken. »Sonst noch irgendwen?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
Sie hatten am gestrigen Abend und heute früh schon mit Malachai darüber gesprochen: Anis Auftraggeber hatten, als die Nonne und ihr Begleiter nicht zurückkamen, sicher neue Pläne geschmiedet. Sie mussten jederzeit damit rechnen, ausspioniert, belauscht und verfolgt zu werden.
Jac stellte sich im Weitergehen die Karte vor, die Robbie ihnen gezeigt hatte. Er musste die Katakomben inzwischen über einen Kanalzugang im sechsten Arrondissement verlassen haben.
Griffin und Jac hatten sich um sieben Uhr morgens aus dem Haus geschlichen, waren in den Schacht hinabgestiegen und hatten sich mit Robbie in der ersten Kammer getroffen. Das war noch immer der sicherste Ort für ihn. Sie hatten ihm frische Kleidung und die Anweisungen des Lamas aus dem Buddhistischen Zentrum mitgebracht.
Als sie ihn fragten, wie seine Nacht gewesen war, hatte er nur mit den Schultern gezuckt.
»Hast du mit Ani geredet?«, fragte Griffin ihn.
»Nur kurz.«
»Hast du was herausgefunden?«
Robbie schüttelte den Kopf. Jac schmerzte es, ihren Bruder so leiden zu sehen. An seinen dunklen Augenringen war ihm anzusehen, wie sehr ihn der Verrat schmerzte, an den Falten um seinen Mund, die sich über Nacht tiefer eingegraben hatten.
Jac und Griffin erreichten die Pont de la Concorde, die Brücke, die
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