Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
aber auch die Männer aus ihren Visionen. Der junge Pariser Parfümeur, den Marie-Geneviève so liebte. Und Thot, der starke ägyptische Priester, der Düfte für seine Königin schuf.
Jac wusste nicht mehr, wessen Hände sie auf sich spürte, wessen Atem an ihrem Hals. Alles war nur noch Gefühl, eine berauschende Mischung aus Erschöpfung, Lust und Verlangen. Dem verzweifelten Verlangen, ihm nahe zu sein. Das Schicksal oder die Umstände hatten sie wieder und wieder voneinandergetrennt. Doch nur zusammen ergaben sie ein Ganzes. Wie jetzt, in diesem magischen Moment.
Er kam ins Wasser und hielt ihre Hände, die Finger ineinander verschränkt. Sie würde ihn nicht mehr loslassen. Nichts konnte sie mehr voneinander trennen. Jac zerging in seiner Hitze und der des Wassers. Ging in ihn über. Ihre Lebensfäden verflochten sich. So konnten sie sterben: einander umschließend, umschlossen …
Plötzlich sah sie den ägyptischen Priester und seine Geliebte einander umarmen, mit letzter Kraft. Wusste, dass sie Gift genommen hatten, dass sie gemeinsam sterben würden. Sie lagen einander in den Armen und küssten sich ein letztes Mal, ohne jede Angst, denn Thot hatte versprochen … er hatte ihr versprochen, dass sie sich im nächsten Leben wiederfinden würden. Und wieder und wieder und wieder.
»Jac …«, flüsterte Griffin.
Ihr Name klang fremdartig. Weckte sie aus ihrem Traum und jagte ihr elektrisierende Schauer über den Rücken.
»Jac …« Er sagte es noch einmal, und dann war nichts mehr, keine Luft, kein Wasser mehr, das sie trennte. Sie tanzten den ewigen Tanz, den ihre Körper kannten und ihre Seelen liebten. Dies war ihr wahres Selbst. Selbst wenn es in die Katastrophe führte. In den Tod. Dieser Augenblick war es alles wert. War alles.
Einundfünfzig
22:17 UHR
Robbie saß, den Rücken an die Felswand gelehnt, in der stockdunklen Höhle. Seine Stirnlampe hatte er ausgeschaltet. Seine Augen waren geschlossen, sein Geist blieb wachsam. Robbie war müde, besorgt, nervös. Er lauschte auf das gleichmäßige Geräusch von Wassertropfen in einer Pfütze und glich seinen Atem ihrem beständigen Rhythmus an.
Er war drei Meter vom Rand des Brunnens entfernt. Von den zwei Menschen darin war kein Laut zu hören. Wahrscheinlich wussten sie nicht einmal, dass er dort war.
Ani hatte offenbar nicht geblufft, als sie von ihren UV-Farb markierungen erzählte, denn ihr Mitstreiter war der Spur gefolgt.
»Das bedeutet«, hatte Griffin zu bedenken gegeben, als sie sich vor zwei Stunden verabschiedeten, »dass auch andere sich auf dieselbe Fährte setzen könnten. Geh bloß nicht dahin zurück, okay?«
Noch bevor Robbie sich einverstanden erklären konnte, hatte Jac ihm das Versprechen abgenommen, sich von dem Brunnen fernzuhalten.
Er hatte ihr sein Versprechen gegeben. Und es gebrochen. Doch ihm konnte nichts passieren: Er hatte sich einen Fluchtweg überlegt. Zwei Meter neben ihm gab es einen Durchschlupf,durch den er sofort verschwinden konnte, wenn Gefahr drohte.
Robbie hatte Freunde, die zu Geliebten geworden waren, und Geliebte, die seine Freunde blieben. Mit Männern war er häufiger zusammen, weil er unter ihnen Weggefährten fand, die ihn glücklich machten. Meist waren es neugierige Intellektuelle und Abenteurer wie sein Großvater. Doch die Frauen, zu denen er sich hingezogen fühlte, waren immer zerrissene Charaktere. Es waren rebellische Frauen mit tiefen Narben auf ihrer Seele wie seine Mutter oder seine Schwester. Frauen, die der Heilung bedurften und doch unheilbar blieben. Wie Ani Lodro.
Jeden Sommer besuchte Robbie ein paar Stunden von Paris entfernt ein Retreat. Vor vier Jahren war Ani zur selben Zeit dort gewesen wie er. Beziehungen zwischen den Schülern wurden nicht gern gesehen und nicht begünstigt. Bei den Mahlzeiten wurde geschwiegen, und es gab keinen Gruppenunterricht, keine gemeinschaftlichen Aktivitäten. Dennoch sah Robbie Ani, wo er ging und stand, als verfolgten sie einander. Wann immer er den Tempel betrat, kam sie gerade heraus. Wenn er spazieren ging, tat sie es auch. Er wanderte zum Fluss hinunter, von dem sie gerade zurückkam. Eine Woche lang wechselten sie kein Wort. Ani hielt den Blick immer gesenkt. Robbie hielt sich zurück.
Eines Nachmittags folgten sie beide demselben Meditationspfad im Garten, als ein Unwetter über sie hereinbrach. Beide suchten Schutz in einer Gartenlaube.
Während um sie her der Regenschauer niederrauschte, sah Robbie Ani zum ersten Mal
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