Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
unbeobachteten Moment an der Schwester vorbeigeschlichen«, sagte er und gab Jac und Malachai je eine Kaffeetasse. »Ich habe da unten mit Griffins Arzt gesprochen. Er klang recht optimistisch.«
Versuchte Robbie nur, sich selbst zu überzeugen?
»Das ist ja wundervoll«, sagte Malachai.
Robbie umrundete das Bett und lehnte sich an die Fensterbank. »Das wäre alles nicht passiert, wenn ich das Tongefäß an dich verkauft hätte«, sagte er zu Malachai.
»Und du glaubst nicht, wie sehr ich mir das gewünscht habe. Aber manchmal hat es seinen Sinn, dass alles so kommt, wie eskommt. Vielleicht war es richtig so. Habt ihr die Nachrichten gesehen?«
Jac und Robbie schüttelten den Kopf.
Malachai tippte eine Internetadresse in sein Handy und reichte es Jac. Er hatte die internationale Ausgabe der
Herald Tribune
aufgerufen.
»Diese und ähnliche Meldungen werden gerade auf allen wichtigen Fernseh- und Onlinekanälen verbreitet. Der junge Mann, der mit dem Dalai Lama aus dem Museum verschwunden ist, war nicht irgendein chinesischer Kunststudent namens Xie Ping. Er ist der tibetische Panchen Lama, der mit sechs Jahren von den Chinesen entführt und einer Gehirnwäsche unterzogen wurde. Eine schreckliche Geschichte. Seine Familie und die buddhistische Gemeinschaft haben zwanzig Jahre lang geglaubt, er wäre tot.«
Jac vergrößerte ein Foto von dem jungen Künstler neben dem Dalai Lama. Seine Heiligkeit strahlte über das ganze Gesicht. Xie sah aus wie eine verlorene Seele, die endlich in den heimatlichen Hafen zurückgefunden hatte. Sie reichte das Telefon an ihren Bruder weiter.
»Diese Geschichte wird den Tibetern neue Sympathien einbringen«, sagte Malachai.
Robbie nickte. Er wirkte, als sei etwas in ihm endlich zur Ruhe gekommen.
»Ihr werdet in dem Artikel auch erwähnt«, sagte Malachai. Er nahm das Telefon wieder an sich, suchte die Textstelle, die er meinte, und las vor:
»Miss Jac L’Étoile und ihr Bruder haben viel auf sich genommen, um uns dieses Päckchen zu überreichen‹, erklärte der Dalai Lama im Anschluss an die Ereignisse im Interview. ›Es enthält die Scherben eines altägyptischen Tontiegels mit Hieroglyphen darauf und eine Übersetzung dieser Schriftzeichen durch Griffin North. Der Text besagt, dass in dem Gefäß einmal ein Parfüm aufbewahrt wurde, das Erinnerungen an frühere Inkarnationen wachrufen
konnte. Das ist ein sehr kostbares Geschenk. Wir hoffen von ganzem Herzen, dass bei der Übergabe nicht etwas sehr viel Kostbareres, ein Menschenleben, verloren worden ist.‹«
Achtundfünfzig
SONNTAG, 29. MAI
Jac, Malachai und Robbie hatten den ganzen Abend über gemeinsam an Griffins Bett gesessen, doch um Mitternacht hatte Jac darauf bestanden, dass die beiden Männer schlafen gingen. Robbie hatte während der Tage in den Katakomben nie mehr als ein, zwei Stunden gedöst. Ihm fielen schon die Augen zu. Malachais Fahrer sollte ihn zu Hause absetzen und dann Malachai in sein Hotel zurückbringen. Sein Rückflug ging am nächsten Morgen.
»Bitte ruf mich an, wenn du etwas brauchst«, hatte er zu Jac gesagt und sie an sich gedrückt. In all den Jahren, die sie einander kannten, hatte der Therapeut immer seine Distanz gewahrt und ihr höchstens die Hand auf die Schulter gelegt. »Egal, was es ist«, fügte er noch hinzu.
Jac nickte.
»Auch, wenn du darüber reden willst, was du …«
»Danke«, unterbrach sie ihn. Jac wollte nicht, dass er in Robbies Gegenwart über die Halluzinationen sprach. Sie wollte überhaupt nicht mehr darüber sprechen. Nie wieder. Mit niemandem.
Als die beiden gegangen waren, war Jac zum ersten Mal mit Griffin allein im Zimmer. Das Licht war aus, nur die Lämpchen der Apparate erleuchteten den Raum.
Die Ärzte hatten gesagt, es sei wichtig für Griffin, zu spüren, dass jemand bei ihm war.
»Ich habe dich nie gefragt, was dein Lieblingsmythos ist«, sagte sie. »Komisch, oder? Meiner ist der von Daidalos und Ikaros. Soll ich ihn dir erzählen?«
Jac begann mit einer Floskel, die sie seit frühester Kindheit kannte. »Es war einmal …«
Doch bald merkte sie, wie müde sie war. Zu müde. Es konnte sicher nicht schaden, sich einen Moment auszuruhen. Sie legte den Kopf auf ihre verschränkten Arme und schloss die Augen.
Um sechs Uhr morgens wurde sie von einer Schwester geweckt, die zur Routinekontrolle kam.
Kurz darauf war die Visite, und Jac wurde aus dem Zimmer geschickt. Sie nahm sich eine Tasse Kaffee mit nach draußen, lehnte sich an
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