Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
Wand an einem der Tische saß. Er wirkte normal und war unauffällig gekleidet. Doch dieser Mann befehligte ein Netzwerk mit zehntausenden Mitgliedern, eine eingeschworene Bruderschaft, die in verschiedenste kriminelle Aktivitäten verwickelt war, Drogenschmuggel, Steuerbetrug, Erpressung und vieles mehr.
Huang zögerte einen Augenblick, als der Kellner eine Teekanne vor dem Mann absetzte. Er hatte Weisung bekommen, so zu tun, als kenne er den anderen bereits, also nickte er ihm zu, grüßte und setzte sich ihm gegenüber. Auf dem Tisch waren zwölf Teetassen aus weißem Porzellan zu einem Rechteck angeordnet, in dessen Mitte eine dreizehnte Tasse stand.
Das Ritual, an dem Huang jetzt teilnehmen würde, war über dreitausend Jahre alt und wurde von den meisten Anführern der
hak se wui
längst nicht mehr praktiziert, doch der Kopf der hiesigen »Schwarzen Gesellschaft« – nur die Kaukasier nanntensie »Triaden« – hielt an den alten Gebräuchen fest. Die Zeremonie hatte früher dazu gedient, die Vertrauenswürdigkeit unbekannter Besucher zu testen. Als es noch kein Internet, kein Telefon und nicht einmal verlässlichen Postverkehr gab, mochte es nützlich gewesen sein, doch inzwischen war es nur eine weitere Marotte des alten Gu Zhen.
Huang griff nach der einzelnen Tasse in der Mitte, um in der Sprache der Triaden zu signalisieren, dass er dazugehörte, dass er wortwörtlich einer aus ihrer Mitte war.
Gu Zhen goss erst sich selbst, dann seinem Gast Tee ein. Huang folgte gespannt den quälend langsamen Bewegungen, mit denen der Unterweltboss die Kanne abstellte. Wenn die Tülle zu Huang zeigte, hieße das, dass ihr Treffen beendet war, dass Gu Zhen sein Anliegen ablehnte, ihm nicht traute, oder dass Huang ihn verärgert hatte und keine Hilfe von ihm erwarten durfte.
Doch die Tülle zeigte in die andere Richtung. Damit war es an Huang, seine Tasse zu leeren und sie umgekehrt auf den Tisch zurückzustellen, um zum Ausdruck zu bringen, dass er etwas besprechen wollte. Er tat es.
Gu Zhen nickte. »Ich kann Ihnen helfen«, sagte er mit kaum hörbarer, heiserer Stimme. »Aber das wird teuer. Wir ziehen es vor, uns auf unser Kerngeschäft zu konzentrieren.«
»Geld spielt keine Rolle. Unsere Regierung wünscht nicht, dass dieses Spielzeug in die falschen Hände gerät.«
Der Alte hob die Brauen. »Spielzeug?« Er sprach das Wort aus, als schmeckte er seinem Klang nach, und nippte am Tee.
Huang wusste, dass er zu seinem eigenen Besten respektvoll sein, das Ritual befolgen und seine Ungeduld zügeln musste, wenn er die so dringend benötigte Hilfe bekommen wollte. Also hielt er still und schlürfte Tee aus einer winzigen, fleckigen Tasse, zwanzig Minuten, acht Kilometer und eine halbe Welt von seinem stilvollen Büro in der Botschaft der Volksrepublik China in der Avenue George V entfernt.
»Was können Sie mir über dieses ›Spielzeug‹ sagen, wie Sie es nennen?«
»Angeblich ist es eine Art antikes Hilfsmittel, um sich an seine früheren Leben zu erinnern.«
»Was Sie für Unsinn halten?«
»Was für uns irrelevant ist. So wie wir diesen Krieg führen, kommen wir nicht voran. Es ist kein Ende in Sicht. Die Buddhisten geben nicht auf. Die halbe Welt steht hinter den Exiltibetern, selbst wenn die Regierungen uns fürchten. Wir wollen jede weitere Aufregung vermeiden. Wir können keine Mönche gebrauchen, die sich zu Märtyrern machen. Und am allerwenigsten brauchen wir Gerüchte über Beweise für die Reinkarnationslehre.« Huang hatte auch von anderen Dingen gehört, die angeblich eine Tür zur Vergangenheit darstellten, ein Portal. Eine uralte Flöte in Wien. Ein Haufen Edelsteine in Rom. Die Chinesen hatten es nicht geschafft, sie an sich zu bringen. Doch laut seinen Informanten in der buddhistischen Gemeinschaft war dieses Hilfsmittel hier in Paris. Wenn es in die falschen Hände geriet …
»Das ist Wasser auf die Mühlen der religiösen Fanatiker. Erst vor zwei Wochen haben sie einen Jungen in Lhasa zur Inkarnation eines Lama erklärt, was eindeutig gegen das Gesetz ist.« Huang redete sich in Rage. »Jedes Mal, wenn sie einen ihrer ›friedlichen‹ Proteste inszenieren, wissen sie genau, dass wir einschreiten werden. Dann gehen die Kämpfe von vorn los, und die Mönche machen sich zu Märtyrern. Das bringt die Medien auf ihre Seite und macht das Ganze zu einem internationalen Spektakel. Das wissen die Tibeter genau. Dieser Wolf in der Mönchskutte sowieso. Zweihundert Menschen sind in den letzten
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