Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
auf die nächste Zickzacklinie, die den Himmel zerriss.
»Was zum … Hast du das gesehen?« Griffin zeigte in eine Ecke des Gartens.
»Was, den Geist?«, fragte Robbie.
»Einen Geist wohl kaum, aber da draußen ist jemand.«
»Außer durch die Tür hier oder den Zugang vom Wohnhauskommt niemand in den Hof. Was du gesehen hast, ist der Schatten eines uralten Baums, der am Ende der Hecke steht. Jac und ich haben ihn immer den Geist genannt. Manchmal, wenn das Licht in der Dunkelheit darauf fällt, sieht er aus wie ein Mensch.« Robbie öffnete die Tür in den sturmgepeitschten Garten. »Komm, ich zeige ihn dir.«
Gerade als er über die Schwelle schritt, zuckte wieder ein Blitz über den Himmel, und ein Regenschauer setzte ein. Einen Moment lang sah es aus, als würde Robbie mit flüssigem Silber übergossen. Rasch drehte er um und schüttelte die Tropfen ab. Dann holte er eine Flasche Pessac-Léognan aus dem Schrank. »In diesem Fall mache ich doch lieber einen Wein auf«, sagte er. »Trinkst du mit?«
»Gern.«
Robbie entkorkte die Flasche. »Manchmal sehen wir im Dunkeln Dinge, die nicht da sind. Und im Zustand tiefster Konzentration können wir sie zum Leben erwecken.«
»Sie manifestieren?«
Robbie nickte und reichte Griffin ein Glas Bordeaux. »Es gibt tibetische Mönche, die Gedankenmanifestationen hervorbringen können, sogenannte Tulpas. Hast du schon davon gehört?«
»Ja. Spirituell fortgeschrittene Mönche können angeblich mit purer Willenskraft physische Gestalten erschaffen.«
»Du klingst nicht so, als ob du daran glaubst.«
»Nein. Du etwa?«
»Ja.«
»Eigentlich überrascht mich das nicht.«
»Und woran glaubst du, mein Freund?«
Griffin lachte. »Nicht gerade an viel, fürchte ich. Meine Religion ist, wenn überhaupt, die Geschichte.«
»Geschichte ist kein Glaubenssystem. Ist das dein Ernst? Du weißt so viel über Religionen und glaubst an keine?«
»Joseph Campbell hat einmal gesagt …« Griffin unterbrach sich. »Den kennst du, oder?«
»Ja, natürlich, der Mythologe. Jac zitiert ihn ständig.«
Es war das zweite Mal innerhalb kurzer Zeit, dass Robbie seine Schwester erwähnte. Griffin hielt sich zurück, nach ihr zu fragen. Was hätte er davon? Es würde doch nur die Geister der Vergangenheit wecken. »Kein Wunder, dass Jac ihn gern zitiert.« Sie überhaupt zu erwähnen, nur mit den Lippen ihren Namen zu formen fühlte sich schon merkwürdig an. »Er ist eine Art Guru für jeden, der sich mit Mythologie befasst.«
»Von Gurus hältst du auch nicht viel, oder?«
»Sagen wir, ich bin skeptisch.«
»Sagen wir das.« Sie lachten. Dann wurde Robbie wieder ernst. »Die Welt ist voller Wunder, mein Freund. Aber Zynismus kann uns daran hindern, sie zu sehen. Meine Schwester und du … Ihr seid von Mysterien und Magie umgeben und schottet euch dennoch vollständig dagegen ab – um sie analysieren und katalogisieren zu können.«
Griffin hatte sich Jacs Fernsehsendung angesehen, doch ihr Anblick auf dem Bildschirm hatte nicht viel über sie verraten, außer, dass sie schön war. Immer noch. Ihr Haar war so lang wie damals, und er war froh, dass sie es nicht kurz geschnitten hatte. Üppiges dunkles Haar, dessen Locken sanft ihren schlanken Hals umspielten. Er hatte sich daran erinnert, wie schwer ihr Haar war, wie es sich anfühlte, seine Hand darin zu vergraben und sie an sich zu ziehen, um sie zu küssen. An ihre dichten Wimpern, ihre großen, leuchtend grünen Augen und die Angst, die sich manchmal darin spiegelte und ihm schier das Herz zerriss. Er hatte ihr dann immer versprochen, sie zu beschützen. Doch genau das hatte er nicht getan.
Griffin nippte an seinem Wein und betrachtete die tönernen Puzzlestücke. Die antike Vergangenheit zu analysieren und zu diskutieren war die eine Sache – doch seine eigene? »Campbellhat jedenfalls gesagt, wenn man in sämtlichen Geschichten, Mythen und heiligen Schriften das Wort ›Gott‹ durch ›Güte‹ ersetzen würde, dann hätte man eine wirklich lebenswerte Religion. Wenn ich mir also eine Sache aussuchen sollte, an die ich glaube, dann wäre es wahrscheinlich der Versuch, ein guter Mensch zu sein.«
Wieder erhellte ein Blitz den Himmel, und ein satter, orchestraler Donnerschlag ließ die Glasscheiben erzittern. Der Regen trommelte an die Gartentür. Sämtliche Lampen in der Werkstatt flackerten, leuchteten noch einmal auf und erloschen.
Robbie entzündete mehrere Votivkerzen und verteilte sie im Raum. Lange, finstere
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